Theramia

Wiege der Magie

Sein Blick glitt über das rote Wasser des Sephris, der sich an der Cae’Angelis vorüber durch die Stadt zog und sie in zwei Hälften spaltete. Sonne und Mond, Tag und Nacht. Eine Seite, die den Hexen gehörte, die andere den Schattenwandlern. Ihre Paläste ragten am Ufer des Flusses auf wie mit Speeren bewehrte Soldaten, die einander wachsam im Auge behielten. Doch es bedurfte keiner sichtbaren Grenze, um Hexen und Wandler zu trennen. Die Kluft zwischen ihnen war jahrhundertealt und sie würde niemals heilen. Man konnte die Wundherde für eine Weile schließen, aber letztlich war es immer nur eine Frage der Zeit, bis der nächste aufbrach.


Herrscher: Geteilt zwischen der Sonnenfürstin Aurea Valerian und dem Nachtfürsten Dameo Angelis

Wappen: Die Sonne des Sonnenhofes und der geflügelte Mond des Schattenhofes

Hauptstadt: Gemea


Theramia. Fruchtbar, voller sanfter Hügel. Sonnig und von dem zarten Duft nach Orangenblüten erfüllt. Kein Land wirkt friedlicher und kein Land könnte in Wirklichkeit zerrissener sein. Geteilt von einem uralten Fluch, der immer wieder Leben fordert.


Einst von den Dämonen regiert, sind es heute ihre Hinterlassenschaften, die Theramia so eng mit der Magie verwurzeln, dass es das einzige offen von Hexen und Schattenwandlern regierte Land von Atharys ist. Dies führt dazu, dass den Theramiern oftmals offenes Misstrauen entgegenschlägt, dass man sie jedoch auch ebenso fürchtet. Theramier gelten als scharfsinnig und intelligent. Niemand wagt es, einen Theramier übers Ohr zu hauen, weil man niemals weiß, ob nicht ein Hauch von Hexenblut in seinen Adern fließt. Entsprechend sind Theramier geschickte und oftmals erfolgreiche Geschäftsleute und ebenso gefürchtete Geschäftspartner.


Theramia ist ein Hort des Wissens. Riesige Bibliotheken ziehen Gelehrte aus allen Ländern an und nicht wenige an Magie interessierte, die sich erhoffen, einen Blick auf die sagenumwobenen Zauberbücher der Hexengeschlechter erhaschen zu können. Wer nach Büchern sucht, nach Wissen, das verloren gegangen ist, könnte hier fündig werden. Denn nirgends wird die Vergangenheit höher geschätzt und nirgends weiß man mehr über die Welt des Übersinnlichen.


Die Bauwerke in den Städten sind Ehrfurcht einflößend. Die hohen Säulen, geziert von den Schriftzeichen der Alten Sprache, uralte Statuen, gefertigt von den besten Bildhauern der Stadt. Verlassene Tempel der Elementgötter. Überall sind die Spuren der Dämonenherrscher zu finden, die Theramia einst für sich beansprucht haben, und sie erwecken eine längst vergangene Zeit zum Leben. Insbesondere in Gemea, der geteilten Zwillingsstadt und der Hauptstadt des Landes, kann man auf den Spuren von König Domian wandeln und die Magie spüren, die noch in der Luft hängt.


Vielerlei Legenden ranken sich um Gemea - keine ist jedoch fantasievoller als die Wirklichkeit. Ein Fluss aus Blut teilt die Stadt in der Mitte - der Sephris, der die Viertel der Schattenwandler von denen der Hexen trennt. Beide Geschlechter sind von Geburt an verfeindet und doch durch den Fluch der Hexe Seraphia verbunden, der sie zwingt, den Frieden miteinander zu wahren und ihre blutigen Machtkämpfe beendet hat.


Doch Gemea ist nicht nur durch Hexen und Schattenwandler geteilt, sondern auch durch Arm und Reich. So mögen die Paläste am Ufer des Sephris mit ihrer Pracht alle Blicke auf sich ziehen, doch in den unteren Flussvierteln hausen die Armen. Menschen. Ausgestoßene. Jene, die alles verloren haben.


Die Katakomben von Gemea gehören zu den geheimnisvollen Flecken, über die es auf Atharys vielerlei Geschichten und Gerüchte gibt. Ganz gleich, ob auf dem Nachtmarkt, der sich vor dem alten Dämonenhof ausdehnt, oder in der Dunkelheit der unterirdischen Arkaden - hier gibt es magische Tinkturen zu erwerben, Talismane, Zauber - und Dienstleistungen, die nicht ans Licht des Tages gehören. Wer hierher kommt, ist selten auf der Suche nach etwas Harmlosem. Eine Vielzahl von Scharlatanen und Betrügern ist auf dem Nachtmarkt zugegen und bietet allerlei Mittel und Gifte feil, die mehr versprechen, als sie zu halten vermögen. Allerdings gibt es auch wirkliche Magie. Gefährliche Gifte, wahrhaftige Zauber. Alles, was das dunkle oder verzweifelte Herz begehrt.


Auch die Kanäle der Katakomben sind nicht weit. Hier kann man wahrhaftige Dämonenblute antreffen, die noch das Blut der Dämonen in den Adern tragen - und Schattenbestien, die nach dem Leben jener trachten, die sich in die tiefe Dunkelheit der Unterwelt wagen.


Wer Theramia besucht, ist häufig auf der Suche nach Wissen. Jedoch auch nach Heilmitteln oder der Hilfe einer der Kräuterhexen, die Wunden und Krankheiten heilen können, die kein Arzt zu heilen vermag.


Tatsächlich mag Theramia das einzige Land von Atharys sein, das niemals von den Feen heimgesucht wird. Doch die Dämonen haben genügend Gefahren hinterlassen, um diesen Mangel auszugleichen.


Gemea

Der getrennte Zwilling


Erhaben, mächtig, so groß, dass es beinahe unmöglich erscheint - nirgends wird die Größe der Dämonenherrscher so offenbar wie in Gemea, dem geteilten Zwilling. Wer von einem der Hügel vor der Stadt über die Häuser und Villen blickt, dem verschlägt es nicht selten den Atem. Und niemand würde je anzweifeln, dass er einen Riesen vor sich hat.


Der Sephris teilt die Stadt wie eine blutige Narbe, über die sich zierliche Brücken schwingen. Ein Schnitt, der sie in die Welt von Sonne und Mond teilt. Prachtvolle Bauwerke erheben sich an seinem Ufer. Die Villen der Hexen und Schattenwandler, eine größer als die andere, von den fähigsten Architekten der Stadt geplant, um die Macht des Geschlechts zu offenbaren, das darin lebt. Die meisten der adeligen Familien besitzen zudem einen Palast auf den Hängen zu beiden Seiten des Sephris. Alte, erhabene Bauwerke, die wie weise Gelehrte auf die jüngere, kapriziöse Stadt hinabblicken, in der sich heute das Leben abspielt. Allerdings sind sie längst aufgegeben - Relikte der alten Macht unter hohen Bäumen, die zugunsten des überschäumenden Lebens an den Ufern des Sephris zurückgelassen worden sind. Oftmals leben nur noch die Geister ihrer einstigen Bewohner darin.


Insbesondere die Cae’Cosmean spielt dabei eine große Rolle in der Geschichte der Stadt. Einst das Herrschaftszentrum der Stadt, der Palast des großen Hexengeschlechts der Cosmean, bis Florea, die Tochter der Sonnenfürstin Seraphia, vom Glockenturm des Sephris in den Tod gestürzt ist. Bis heute weiß niemand, was genau in jener Nacht geschehen ist, doch seither regiert Seraphias Fluch über Gemea. Die Fluten des Sephris haben sich rot verfärbt, Schattenwandler und Hexen sind an die Stadt gebunden und gezwungen, den Frieden zu wahren - und immer wieder zeigt sich ein Silberband zwischen einer Hexe und einem Schattenwandler - jene tiefe Bindung, die zwei Seelen aneinander bindet. Es heißt, dass die Träger des Silberbandes den Fluch brechen können - doch bislang sind alle Verbindungen gescheitert und jede der jungen Hexen ist noch vor ihrer Hochzeit Florea in das Wasser des Sephris gefolgt.


Zu jedem Vollmond kommen Schattenwandler und Hexen in der Kathedrale des Lichts zusammen, um unter der Leitung der Lichtstimme von Gemea die Mondzeremonie zu feiern. Jenes Ritual, bei dem die Blutlinien der Hexen und Schattenwandler die Mondgaben austauschen - das Sonnenblut der Hexen, das die Schattenwandler davor schützt, in der Sonne zu verbrennen und die Mondtränen der Schattenwandler, die den Mondwahn verhindern, dem die Hexen anheimfallen. Diese Zeremonie wird von der ganzen Stadt feierlich begangen und zieht viele Zuschauer des einfachen Volkes an, die einen Blick auf die herrschenden Familien von Gemea erhaschen wollen, wenn sie in ihren Kutschen zur Kathedrale des Lichts gebracht werden. Im Anschluss finden Feierlichkeiten in der ganzen Stadt statt, bei denen Ströme von Wein fließen - und nicht selten Blut, wenn es zu Streitigkeiten zwischen Hexen und Schattenwandlern kommt.


Die Teilung der Stadt ist zu jeder Zeit deutlich spürbar. Bei Tage regieren die Hexen in ihren hellen, leuchtenden Palästen, bei Nacht jedoch gehört Gemea den Schattenwandlern. Dann sind ihre Viertel erleuchtet, als wären die Sterne vom Himmel gefallen, während die Hexen die Läden fest verschließen und die Lichter entzünden, die das gefürchtete Mondlicht fernhalten sollen. Selbst die Kutschen der Hexen verfügen über Lichter und dichte Vorhänge oder Läden, sodass sie auch in der Dunkelheit nicht auf Licht verzichten müssen.


Allein die Viertel der Menschen, die sich zu beiden Seiten des Sephris erstrecken, bleiben von dem Konflikt der beiden Parteien unberührt. Sie fristen ein oft einfaches Leben im Schatten des Adels, der die Stadt beherrscht, und im Seeviertel finden sich nahe der Stadtmauer die ärmlichen Hütten jener, die keinen Platz in der Gesellschaft gefunden haben. Dies ist die dunkle Seite von Gemea, der sich niemand gern nähert. Viele der einfachen Kräuterhexen hausen am Rande der Stadt - jene, deren Blut zu dünn ist, um wahrhaftige Hexenmagie zu wirken -, helfen oder verkaufen ihre Dienste an jene, die ihrer bedürfen.


Einen Kontrast dazu bildet das Vergnügungsviertel rund um die Vea’Valia - jener Ort, an dem Schattenwandler und Hexen nicht selten auf der Suche nach Zerstreuung zusammentreffen. Die Vea’Valia bietet alles - Hurenhäuser, Oper und Theater, Spielhallen, Tanzsäle - und der Adel der Stadt und die Reichen sind dort häufige und gern gesehene Gäste. Auch der Nachtmarkt und die Katakomben von Gemea erwachen dann zum Leben und das bläuliche Dämonenlicht taucht die Mauern des alten Dämonenhofes in einen unheimlichen Schein.


Gemea wird von Schattenwandlern und Hexen getrennt regiert. Für gewöhnlich beschränkt sich jede Partei auf ihren eigenen Bereich und duldet auch keine Einmischung von der anderen. Dabei stehen die Cae’Valerian, der Sonnenhof der regierenden Fürstin Aurea Valerian, und die Cae’Angelis, der Nachthof unter der Herrschaft des Nachtfürsten Dameo Angelis, im Zentrum des Interesses. Seit Seraphias Fluch gibt es keine offenen kriegerischen Handlungen mehr, dennoch kommt es zu Konflikten und Intrigen und nicht selten sind die Höfe gezwungen, diese gemeinsam zu lösen. Eine Tatsache, die keinem von beiden gefallen will und die oftmals des neutralen Grundes der Kathedrale oder der Anwesenheit der Lichtstimme bedarf, um eine Lösung zu finden.


Während die alleinige Gewalt über die Schattenwandler in den Händen der Angelis liegt, gibt es auf der Seite der Hexen noch eine zweite Macht: die Grauroben, jene Hexen, die von der Cae’Magriae aus über die Welt der Magie und ihre Blutlinien wachen und dafür Sorge tragen, dass niemand ihre Gesetze übertritt. Der Hexenzirkel ist in Gemea unter den Hexen gefürchtet und selbst die Sonnenfürstin muss sich vor ihm verantworten. Dabei liegt das Augenmerk des Zirkels insbesondere darauf, keine zweite Seraphia in den Mauern der Stadt heranwachsen zu lassen. Denn niemand wünscht sich noch einmal eine Hexe, deren Macht so groß ist wie die der Fürstin, die es vermocht hat, die ganze Stadt zu verfluchen und das Wasser des Sephris in Blut zu verwandeln.


Seraphias Fluch

»Wie seltsam, dass sie ausgerechnet dieses Kästchen zurückgelassen hat.« Sie fuhr über die Linien des eingeschnitzten Rosenmusters. »Ich frage mich, was Seraphia von uns erwartet. Sollen wir einander lieben, wie es Adrean und Florea getan haben?« Sie schüttelte mutlos den Kopf. »Welchen Sinn macht es, zwei Fremde aneinander zu binden, die nichts voneinander wissen oder wollen?«

»Wenn sie uns eine Antwort darauf hinterlassen hätte, wären wir frei.« Meister Aemilan lächelte humorlos und nahm das nächste Werk aus dem Regal, um es zu dem ersten zu legen. Es war ein dünnes Büchlein, unauffällig und leicht zu übersehen neben den dickeren Bänden. »Das Silberband ist seit Seraphias Tod neun Mal aufgetreten, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie seine Träger zueinander gestanden haben. Alle Aufzeichnungen, die uns mehr darüber verraten könnten, sind vernichtet.« Er schlug grimmig gegen die Buchrücken und setzte seine Wanderschaft zwischen den Buchreihen fort.




Ein Fluch, der eine Stadt spaltet. Geboren aus Krieg und dem Leid einer Mutter, die all ihre Kinder an ihn verloren hat.


Hat es jemals eine mächtigere Hexe auf dem Boden dieser Welt gegeben als Seraphia Cosmean? Bedenkt man, welche Auswirkungen ihr Fluch besessen hat, muss man daran zweifeln.


Dreihundert Jahre sind vergangen, seit die damalige Sonnenfürstin den Fluch ausgesprochen hat, der Hexen und Schattenwandler zwingt, friedlich nebeneinander zu existieren. Was genau in jener Nacht geschehen ist, liegt im Dunkeln und tatsächlich finden sich keine Aufzeichnungen mehr, die Aufschluss darüber geben.


Man erinnert sich, dass ihre Söhne im Krieg gegen die Schattenwandler gefallen sind. Daran, dass der Sonnenhof von Gemea zu dieser Zeit jede Hoffnung auf seine Zukunft in den Händen der Cosmean verloren hatte. An das Leid einer Mutter, deren Schicksal es war, ihre Kinder in den Unruhen untergehen zu sehen.


Allein Seraphias Tochter Florea war ihr geblieben. Die letzte Hoffnung der Cosmean, den Thron von Gemea zu halten. Bis Florea zum ersten Mal dem Nachtfürsten Adrean Luceas begegnet ist und eine Liebe ihren Anfang nahm, die Gemea in ihren Grundfesten erschüttert hat.


Niemand weiß genau, was Florea und Adrean dazu gebracht hat, das Silberband zu schließen. Eine Verbindung zwischen einer Hexe, der nächsten Sonnenfürstin, und dem Fürsten der Nacht, das Undenkbare, das ganz Gemea in Aufruhr versetzt hat. Doch jeder in Gemea weiß bis zum heutigen Tage, wie diese Liebe geendet hat. In jener Nacht, als Florea vom Glockenturm in die Fluten des Sephris gestürzt ist. In der Nacht, in der Seraphia ihren Fluch ausgesprochen hat und sich selbst in der Cae’Cosmean verbrannt hat, um ihre Magie mit ihrem Leben zu nähren.


Seraphia hat mit ihrem Leben bezahlt, um den Zauber zu weben, der Hexen und Schattenwandler zu ihrem unruhigen Frieden zwingt. Der sie in jeder Vollmondnacht zusammenbringt, um die Gaben zu tauschen, ohne die sie nicht existieren können. Allein das Silberband zwischen einer Hexe und einem Schattenwandler soll den Fluch brechen können. Ein kryptischer Hinweis darauf, dass es eine Möglichkeit gibt, Hexen und Schattenwandler von ihrem ungewollten Band zu befreien. Doch auf welche Weise dies geschieht, hat Seraphia niemandem verraten. Das Feuer hat ihr Geheimnis mitgenommen und nichts als Asche davon gelassen.


Acht Mal ist das Silberband seit Seraphias Tod aufgetreten. Acht Hexen haben den Tod gefunden, indem sie ebenso vom Glockenturm gestürzt sind wie Florea. Und manche Stimme ist in all der Zeit laut geworden, dass es kein Ende des Fluches geben wird. Nur Seraphias Wahnsinn, der jede Hexe und jeden Schattenwandler das Leben kostet, die der Fluch des Bandes ereilt …



Ich stürze in die Tiefe, dem glitzernden Wasser entgegen, das sich unter mir wie eine Schlange durch die Stadt windet. In meinem Rücken hallen die Schläge der Turmglocke wie Trommeln, die eine Hinrichtung einleiten.

Der Sephris ist ruhig und glatt wie ein Spiegel. Unberührt von den Tumulten, die Gemea erschüttern. Ich kann ihre Gesichter in seinen Fluten sehen. Meines, das sich mit ihnen vereint, wie wir es im Leben gewesen sind. Ein flüchtiges Aufflackern im Silber des Flusses, bevor er sie mit sich fortreißt.

Dann endet mein Fall. Ich pralle auf die Wasserfläche und die Luft weicht aus meinen Lungen. Schmerz explodiert in meinem Körper, als der Fluss wie ein Hammer meine Knochen bersten lässt. Und als das Wasser über meinem Kopf zusammenschlägt, färbt in Hass vergossenes Blut den Sephris rot.


Die Mondzeremonie


Alysea blickte in den Garten hinab und fand die silbrigen Spuren auf den schmerzverzerrten Gesichtern der Wandler. Sie alle sahen in den Himmel, während Mondtränen über ihre Wangen rannen. Kaum dass sie von ihrer Haut perlten, verwandelten sie sich in harte Tropfen, die diamantengleich glitzerten. Es war ein Anblick, der ihr den Atem raubte. Sie hatte davon gehört, doch nie zuvor hatte sie es mit eigenen Augen sehen dürfen.

Adia Angelis verharrte vor dem Altar, ebenso wie ihre Mutter und Tante Emea. Die Schattenwandlerin war zu Boden gesunken und ihre Mondtränen schimmerten auf der dunklen Seide, in die sie sich gewandet hatte. Es war, als hätte eine Schneiderin den Stoff mit gläsernen Perlen bestickt. Tante Emea hielt den Ritualdolch in ihren Händen. Seine Schneide war rötlich verfärbt von dem Blut, das aus ihren Adern rann und in eine goldene Schale tropfte. Sonnenblut, das es den Schattenwandlern gewährte, unter der Sonne zu wandeln, ohne in ihren Strahlen zu verbrennen. Mondtränen, die den Mondwahn fernhielten, der den Verstand jeder Hexe bedrohte. Seraphias Fluch brachte sie in dieser Nacht unter ihrem Auge zusammen, um sie daran zu erinnern, dass sie einander brauchten, um zu überleben. Keine Hexe konnte ohne einen Schattenwandler existieren und kein Wandler konnte es ohne eine Hexe. Sie waren verbunden, ob sie es wollten oder nicht.




Jede Vollmondnacht markiert in Gemea den Zeitpunkt des Gabentausches unter Seraphias wachsamen Auge. Es ist die Zeit, zu der sich die Hexen dem Mondwahn am nächsten fühlen, die Zeit, in der die Schattenwandler ein immer stärkeres Unbehagen im Sonnenlicht empfinden und sein Brennen auf ihrer Haut deutlicher spüren.


Jeder in Gemea weiß, dass ein Ausbleiben des Gabentausches das Verderben bedeutet. Hexen werden unweigerlich dem Mondwahn anheimfallen. Jenem unheilvollen, geistesabwesenden Zustand, der sie das Mondlicht fürchten lässt, und Schattenwandler werden im Licht der Sonne verbrennen. Ein Monat, länger bewahren sie die Gaben nicht vor den Folgen eines ausbleibenden Gabentauschs.


Und so kommen Hexen und Schattenwandler seit Seraphias Fluch in jeder Vollmondnacht auf dem Boden der Kathedrale des Lichts zusammen. Einem neutralen Ort, den die Schattenwandler respektieren, wenngleich sie nicht dem Glauben der Hexen folgen, denn die Lichtherrin ist auch Teil ihres eigenen Glaubens. Kein Tropfen Blut darf hier vergossen werden, wenn es nicht innerhalb der Zeremonie geschieht, und jeder Konflikt muss unter den Augen der Lichtstimme ruhen.


Im Kathedralengarten wird schließlich das Ritual vollzogen. Die meisten Hexenfamilien erwählen sich eines ihrer Mitglieder, um das Mondopfer im Namen der Familie zu erbringen und das Sonnenblut in die Schale tropfen zu lassen, die unter der Anleitung der Lichtstimme gefüllt wird. Eine winzige, von dem Familienwappen gezierte Phiole, wenige Tropfen nur genügen, um einen Schattenwandler zu schützen, und jedes Familienmitglied erhält eine dieser Phiolen aus den Händen der Lichtstimme.


Die Schattenwandler müssen unterdessen ein weitaus schmerzvolleres Opfer bringen. Denn immer wenn die Glocken des Glockenturmes über dem Sephris die zwölfte Stunde schlagen, zwingt Schmerz sie in die Knie, bis die wertvolle Flüssigkeit aus ihren Augen rinnt. Die Mondtränen der Schattenwandler, auf auf ihren Händen zu diamantartigen Tropfen erstarren. Gesammelt in einem Kästchen gelangen sie in die Hände der Hexen, um von ihnen zu einem Trank verarbeitet zu werden, der sie vor dem Mondwahn schützt.


»Und wenn der Vollmond am Himmel steht, werden die Schattenwandler um meine Tochter weinen und die Hexen bezahlen für ihre Taten mit Blut.«


Die Mondzeremonie wird von der Bevölkerung Gemeas gefeiert wie ein Fest. Schaulustige beobachten die Kutschen der Schattenwandler und Hexen, die an der Kathedrale vorfahren, immer darauf aus, ein wenig Klatsch und einen Blick auf eine der hochgeborenen Gestalten zu erhaschen. Und wenn die Zeremonie vorüber ist, endet die Nacht meist mit blutigen Streitereien, wenn der in Strömen geflossene Wein die Beherrschung ausreichend gesenkt hat. Es ist der Zeitpunkt, zu dem alle schleunigst in ihren Häusern verschwinden und Musik und Tanz enden.


Wer keiner der Familien angehört oder von ihnen verstoßen wurde, sucht sich häufig eigene Wege, um an die Mondgaben zu gelangen. Nicht selten sind dunkle Kanäle daran beteiligt - oder Absprachen mit jenen, die ein ähnliches Schicksal teilen.


Eine Ausnahme bilden Mischlinge. Seraphias Fluch hat sich niemals auf die Kinder zweier Liebender erstreckt, die nicht derselben Art entstammen. So benötigen Mischlingskinder von Hexen und Schattenwandlern keine Gaben, da sie von Seraphias Fluch nicht betroffen sind. Auch Menschenblut ist von dem Fluch nicht betroffen. Da es jedoch das magische Erbe schwächt, legen beide Parteien wenig wert auf eine Verbindung.