Lylleis

Die neidische Schwester

Meine Zofe hatte Lylleis nur widerwillig verlassen und ihre Miene verriet, dass sie lieber an jedem anderen Ort wäre und ganz sicher nicht bei mir, der hexenblütigen Königstochter, die bereits durch ihr rotes Haar verflucht war. Niemand in meinem Heimatland empfand eine allzu große Liebe zu mir und so grenzte es beinahe an ein Wunder, dass man mich nicht mit einem Freudenfest und brennenden Mistgabeln verabschiedet hatte. Ich war mir sicher, dass einige der würdevollen Vertreter des Hochadels es nur zu gern getan hätten.


Herrscher: König Floris IV., Gemahlin: Königin Caršyn

Wappen: Goldene Weizenähre auf grünem Grund

Hauptstadt: Verdahl


Es gibt auf ganz Atharys keinen fruchtbareren Flecken als Lylleis. Das flache Land blüht, das Obst an den Bäumen ist saftiger und größer als an allen anderen Orten und die Luft duftet süß und blumig gleichermaßen. Entsprechend sind die Erzeugnisse des Landes auf ganz Atharys beliebt und die Küche ist über die Landesgrenze hinaus berühmt für ihre Kreativität und ihren Geschmack. Auch die Porzellanwaren sind unerreicht, fein und aufwändig bemalt, um die Speisen zur Geltung zu bringen.


Lylleis hätte also vieles, worauf es stolz sein könnte, wäre nicht dieser hässliche Makel, der seit der Herrschaft von König Gyslan III. über dem Land hängt wie ein dunkler Schleier. Denn Gyslans Ziel war es, sein Land ebenso erstrahlen zu lassen wie das benachbarte Celais, um zu beweisen, dass Lylleis ihm in nichts nachsteht. Er hat die besten Künstler und Architekten um sich versammelt und den Königspalast erbauen lassen, der noch heute über der Hauptstadt Verdahl thront wie ein Juwel, das auf einer Wolke sitzt.


Gyslan hat die ganze Stadt neu gestalten lassen und die Schatzkammern von Lylleis dabei geleert, bis er von seinem Rat zur Abdankung gezwungen wurde. Und obgleich seine Bemühungen redlich waren, sind viele der geplanten Bauten aufgrund des Mangels an finanziellen Mitteln unvollendet geblieben. Nicht zuletzt die Statue des eitlen Monarchen, der bis heute der Kopf fehlt. Eine kleine Rache des Bildhauers, der niemals den Lohn für seine Arbeit erhalten und den kopflosen Gyslan eines Nachts zur Mitte des Marktplatzes hat bringen lassen, wo er bis heute steht. Denn auch die restliche Bevölkerung war dem König nicht länger zugetan, nachdem er das Land an den Rand des Ruins gebracht hat - und die Steuern entsprechend gestiegen sind. Heute sind seine Schultern ein beliebter Ruheplatz für die Tauben, die Verdahl zu ihrem Heim erkoren haben und ihn auf ihre eigene Art schmähen.


Am Ende hat Gyslan für seine Vision wenig mehr als Schadenfreude geerntet. Eine ärmliche Imitation - das war alles, was die Celaier über die Bemühungen ihrer Nachbarn zu sagen hatten. Seither muss sich Lylleis die Schmähung gefallen lassen, nicht mehr als ein Abklatsch von Celais zu sein - und die Celaier geben sich alle Mühe, es Lylleis niemals vergessen zu lassen. Die neidische kleine Schwester, die niemals die Schönheit der älteren erreicht. Ein Land von ungebildeten Bauern, die besser ihre Äcker bewirtschaften. Das sind nur einige der Bezeichnungen, die Lylleis sich seit Gyslans Herrschaft gefallen lassen muss.


Natürlich sind die Lyllesen nicht sonderlich gut auf ihre Nachbarn zu sprechen und rächen sich mit Argwohn und Misstrauen für die alte Schmach. So werden sie es nicht müde, Gerüchte über das Feenblut in den Adern der Celaier zu streuen und zu unken, dass diese ohne die Hilfe der Feen ein Nichts wären.


Befeuert wird dieser Konflikt noch durch den starken Aberglauben und die Gläubigkeit der Lyllesen. Das Volk von Lylleis ist sehr religiös und lehnt jede Art von Magie aus tiefster Seele ab. Dies wurzelt in der Furchtbarkeit des Landes, die auf den Segen der Göttin zurückzuführen ist. Die Lyllesen glauben fest daran, dass die Hüterin des Lichts ihr Land gesegnet hat und schenken ihr dafür ihre Frömmigkeit und Ergebenheit.


So befindet sich auch die größte Kathedrale des Lichts auf dem Angesicht von Atharys in Verdahl. Priester pilgern von weit her an diesen Ort, um der riesigen Statue der Göttin zu huldigen, die unter einer gläsernen Kuppel in Licht gebadet und selbst bei Nacht beleuchtet wird, damit sie nie von der Dunkelheit berührt wird. Die höchsten Würdenträger des Glaubens leben in dem riesigen Komplex, der sich um die Kathedrale erstreckt, und entscheiden dort über die Belange der Kirche. Dabei ist es ihnen ein Dorn im Auge, dass sich Theramia ihrer Oberherrschaft verweigert und eine eigene Kirche des Lichts besitzt. Radikalere Strömungen rufen sogar dazu auf, alle Magie aus Atharys zu verbannen, weil sie das Werk des Herrn des Schattens ist und das Verderben über die Welt bringen wird. Es fehlt ihnen selten an Zuhörern - und Beweisen dafür.


Brisant werden diese Forderungen durch die Tatsache, dass König Floris eine Hexe aus Avrielle zur Frau genommen hat - und dass Rhôsyn, die Tochter des Königspaares, deutliche Anzeichen für ihr Hexenerbe zeigt.


Verdahl

Die Gläubige

Wer Verdahl aus der Ferne erblickt, dessen Blick wird unweigerlich zuerst von Schloss Wolkenheim angezogen, dem einzigen erhöhten Punkt der ansonsten flachen Stadt, dessen helle Mauern in der Sonne erstrahlen. Die hohen Türme mit der Flagge der Königsfamilie, die leuchtend grünen Gärten mit der aufwändigen Bepflanzung und den Statuen, die mythische Kreaturen zeigen - ohne Zweifel ist das Schloss eine exzellente Schönheit. Doch was einst als das prunkvollste Gebäude der Stadt gedacht war, könnte niemals mit dem wahren Zentrum konkurrieren. Der riesigen Kathedrale der Sonne mit dem parkähnlichen Gelände, von dem sie umgeben wird. Inmitten der Stadt zieht die gläserne Kuppel mit der goldenen Sonne auf dem höchsten Punkt alle Blicke auf sich und verdeutlicht, was ein offenes Geheimnis ist: In Verdahl ist es nicht das Königshaus, das regiert. Der Glaube hält das Szepter in der Hand und bestimmt über die Geschicke des Volkes. Und dabei nimmt der Erste Priester der Lichtherrin, der Lichtrufer, eine Stellung ein, die selbst die des Königs übersteigt.


Das Wort der Kirche ist Gesetz. Eine Tatsache, die auch König Floris ständig zu spüren bekommt. Ohnehin ist das Königshaus bei der Kirche in Ungnade gefallen, seitdem Floris seine Hexengemahlin erwählt hat. Und so gleicht die Regierung von Lylleis einem ständigen Machtkampf zwischen König und Kirche, den die Kirche in den meisten Fällen für sich entscheidet. Einzig die Tatsache, dass die Könige von Lylleis als von der Lichtherrin erwählt und von der Kirche geweiht gelten, hält Floris auf dem Thron. Und seither besteht das Leben des Monarchen aus dem Zwiespalt, die Forderungen der Kirche zu erfüllen und dabei seinem Gewissen - und seiner Familie - treu zu bleiben.


Floris, von seiner Mutter zu einem weltoffenen Mann geformt, ist vor allem dem Fortschritt und Weiterkommen seines Reiches verschrieben. Vorstellungen, die ihn immer wieder mit dem traditionsbewussten Lichtrufer Caecilian kollidieren lassen, der keinerlei Verständnis dafür besitzt, wenn der König von dem Weg abweicht, den die Kirche vorgibt. Und so kommt es häufig zu heftigen Streitigkeiten zwischen Krone und Kirche, bei denen Caecilian es geschickt versteht, sowohl das Volk als auch den Kronrat auf seine Seite zu bringen. Sein aktuellster Sieg dürfte dem König am schwersten im Magen liegen - die Verlobung von Prinzessin Rhôsyn mit Prinz Leonyn von Avrielle. Hexenblut zu den Hexen - eine Einstellung, die viele Lyllesen teilen, denen es nicht wohl dabei ist, Hexenblut im Königshaus zu sehen. Sogar die Forderung nach einer neuen Heirat des Königs wird immer lauter - doch hierbei zeigt sich Floris auf keinen Fall kompromissbereit.


Schlendert man durch die Gassen von Verdahl, gibt es allerlei zu entdecken. Keine Stadt auf ganz Atharys verfügt über so viele Gasthäuser und Tavernen, in denen Köstlichkeiten angeboten werden. Oftmals sind die Gerüche der Speisen schon von Weitem zu riechen und ziehen hungrige Besucher in die sauberen Fachwerkhäuser, an denen auf polierten Schildern klangvolle Namen prangen. Das Essen ist wohl die einzige Genusssucht, der die Verdahler frönen, ohne dabei einen Gedanken an Frömmigkeit und Bescheidenheit zu verschwenden, und die gemütlichen Tavernen laden zur Geselligkeit ein. Am Abend kommen viele Verdahler zusammen, genießen Speisen und Wein bis spät in die Nacht, ergehen sich in Klatsch oder lauschen den Sängern, die in vielen der Häusern einkehren. In den größeren Gasthäusern wird sogar getanzt, wenngleich die Stadtwache darauf achtet, dass die Tänze um Mitternacht enden und die Ordnung gewahrt bleibt.


Köche können in Verdahl zu großem Ruhm gelangen und so verwundert es nicht, dass es viele Anwärter auf diesen Posten gibt, die es anstreben, dem Adel zu gefallen, um so zu einer Anstellung im Schloss zu gelangen. Auch die Läden der Porzellanmaler ziehen viele Besucher an und Schaufester stellen die gelungensten Stücke aus. Die Werkstätten stehen dabei in ständiger Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des Königshauses, der sich nur eine entzieht: die Werkstatt der Kirche des Lichts, in der das feine weiße Porzellan mit dem Sonnensymbol hergestellt wird, das die Tafel des Lichtrufers ziert.


Allerdings besitzt Verdahl auch eine beklemmende Seite. Jene, die sich offenbart, wenn man auf die unvollendeten Gebäude und Kunstwerke aus Gyslans Herrschaftszeit trifft. Wie eine Mahnung wirken sie - bescheiden bleiben. Niemals versuchen, den Weg zu verlassen, den die Lichtherrin vorgibt, sich niemals der Prunksucht hingeben, weil sonst das Unglück folgt. Insbesondere der kopflose Gyslan auf dem Marktplatz ist ein Symbol für den Fall, der unweigerlich auf Hochmut folgen wird. Und selbst wenn das Königshaus die Makel in der Stadt gerne beseitigen würde, die auf den Sturz eines der seinen hinweist, lässt die Kirche es nicht zu. Denn es ist auch ebenso ein Symbol dafür, sich weiterhin dem Glauben anzuvertrauen, anstatt zu treu und blind einem Königshaus zu folgen, das schon einmal das Verderben über die Stadt gebracht hat. Es gibt sogar Strömungen von Gläubigen in der Stadt, die fordern, den Adel abzuschaffen, der noch immer für Prunksucht und Verschwendung steht - und es ist gewiss, dass die Kirche diese Stimmen nicht zum Verstummen bringen wird.


Jedes Jahr zur Wintersonnenwende pilgern viele Gläubige nach Verdahl zur Kirche des Lichts, um an den Ritualen des Sonnenfestes teilzunehmen. Hierbei finden über eine ganze Woche kirchliche Feierlichkeiten unter der Leitung des Lichtrufers statt. Gottesdienste und Opferzeremonien, das große Fasten der Königsfamilie, an dem das ganze Volk von Verdahl teilnimmt. Eine Zeit der Stille, an deren Ende die Königsfamilie in grobes Leinen gekleidet zu Fuß vom Schloss bis zur Kathedrale läuft. Dort legt der König vor dem Altar der Lichtherrin seine Krone nieder und spricht ein stilles Gebet, das das Ende der Fastenzeit bedeutet. Nach dieser Geste der Demut findet ein rauschendes Fest zur Erneuerung des Lebens statt, bei dem selbst der Lichtrufer die Augen verschließt. Denn bei aller Frömmigkeit ist der Kirche nicht daran gelegen, das Volk zu sehr zu knechten und es somit zum Aufbegehren zu verleiten.