Das Gefühlsleben einer Fee

Die Kälte einer Winternacht

»Kennst du die Kälte einer Winternacht, in der es kein Feuer gibt, Menschenkind? Die Sehnsucht nach einem Funken Wärme, um deinen erfrierenden Körper zu retten? Das Leben einer Fee kennt nur diese immerwährende Sehnsucht und das Menschenvolk ist die Flamme, an der wir uns wärmen, bevor wir ins Herz des Eises zurückkehren müssen. Wie könnte ich einem Erfrierenden das Feuer verweigern?« Seine Mundwinkel hoben sich, doch sie vermochte es nicht, seine Miene zu lesen. Es war ebenso ein Lächeln wie eine Drohung.



Der Verstand einer Fee arbeitet analytisch. Er ist scharf wie ein Messer und schnell wie ein tödlicher Hieb. Er kann niemals von Gefühlen beeinflusst werden, weswegen er stets klar bleibt, denn eine Fee kennt keine Liebe. Kein Mitgefühl. Noch nicht einmal Hass. Jede Regung des Herzens ist ihr fremd, seitdem das Eisen einen gefrorenen Klumpen in ihrer Brust hinterlassen hat.


Und doch gibt es dieses eine Gefühl, das einen Schatten in jeder Fee hinterlassen hat: Sehnsucht. Die Sehnsucht nach der Menschlichkeit, die sie verloren hat, nach dem Gefühl, das einst ihre Seele erfüllt hat und das sie nicht mehr verspüren darf.


Die meisten Feen besitzen eine Faszination für ein bestimmtes Gefühl. Es mag Liebe sein oder Hass. Trauer oder Freude. Lust, Gier - es gibt kaum eine Grenze. Worin diese Faszination wurzeln mag, ist für sie selbst meist unerklärlich. Dieser Schatten ist wie die Antriebsfeder, die jede Fee dazu bringt, sich nach dem Reich der Menschen zu sehnen und dort zu suchen, was sie tief in sich am meisten begehrt. Ein Mensch ist wie eine Droge, seine Gefühle berauschen den Feenverstand und machen greifbar, was sie selbst nicht mehr greifen kann. Sind Menschen süchtig nach dem Zauber einer Fee, so ist die Fee nicht weniger süchtig nach seinen Gefühlen. Sie mag überlegen erscheinen und ihre Macht ist es gewiss - und doch ist sie nicht weniger eine Gefangene als der Sterbliche, der sich in ihrem Netz verfangen hat.


Feen kennen Neugier und Interesse an Dingen, die ihren Verstand beschäftigen und die endlose Eintönigkeit ihres ewigen Daseins lindern, und sie streben danach. So mag eine Fee die Gefühle des Herzens nicht mehr empfinden, kein Mitleid, kein Grauen und keine wahre Furcht kennen - außer jener, die sie instinktiv verspürt, wenn ihr Leben bedroht ist. Aber sie ist nicht vollkommen ohne jede Empfindung. Sie kennt Schmerz und meidet ihn, sie neigt den Kopf vor ihrem König, weil sie versteht, dass er sie mit einer Handbewegung auslöschen könnte. Und so wird sie auch von einem Selbsterhaltungstrieb erfüllt, der dafür sorgt, dass sie ihr Leben nicht grundlos wegwirft. Ein Funken ihrer Menschlichkeit, ein Funken von etwas, das sie gewesen ist und das nicht vollkommen erloschen ist, als sie gewandelt wurde.


Sich zu opfern oder aufzuopfern ist einer Fee fremd. Nachkommen sind wie wertvolle Erweiterungen ihrer Macht, Familie und Zusammenhalt ein Konzept, das den Einflussbereich des Einzelnen ausdehnen kann und ihm eine bessere Position im Gefüge des Feenreichs verschafft. Etwas, das ihn nützlicher macht, das ihm das Augenmerk des Königs einträgt und somit Freiheiten. Privilegien, die dafür sorgen, dass ihm erlaubt wird, durch die Spiegel zu treten, während andere zurückbleiben müssen. Zurückbleiben und vielleicht sogar dunkle, gefährliche Pfade beschreiten, um die Freiheit zu erlangen, die sich ein anderer verdient hat. Denn die Gier nach der Welt der Menschen und die Ambition mögen auch eine Fee dazu verführen können, das gefährlichste Spiel des Feenreichs zu spielen: Sich gegen den König zu wenden und seinen Zorn zu riskieren.


In der Gunst des Feenkönigs zu stehen, ihm nützlich zu sein, ist die kostbarste Währung des Feenreiches. Denn sie erlaubt, zu jenen zu gehören, die ihre Sehnsucht stillen dürfen. Und so ist das Spiel der Macht den Feen nicht fremd. Intrigen, Machtkämpfe - sie sind Meister darin. Doch sie spielen nicht, um sich zu bereichern, nicht aus Gier nach weltlichen Gütern oder Gefallen daran, wenngleich es sie für eine Weile faszinieren mag. Sondern um die Sehnsucht zu stillen, die niemals schweigen will. Die Sehnsucht, die sie antreibt, selbst wenn kaum etwas anderes in ihnen verblieben ist.