Jishya

Das Reich der Geister

Die Ewige Kaiserin stand inmitten der ausgebreiteten Schwingen des goldenen Phönix und blickte über die Stadt. Das Volk, das sich zu ihren Füßen versammelt hatte. Ihr kunstvoll frisiertes Haar bewegte sich nicht, als der Wind darüber strich. Ebenso wie sie selbst. Eine Statue in roter Seide, mit goldenen Fäden bestickt.

Schließlich hob sie die Arme und die weiten Ärmel flatterten in der erstarkenden Brise, als wollte ein Sturm aufkommen.

Ein Keuchen des Volkes, als Flammen in die Höhe schlugen und die Kaiserin von Jishya in ihrem Inneren einschlossen. Um sie zu verzehren.


Herrscher: Die ewige Kaiserin

Wappen: Der goldene Phönix inmitten roter Flammen auf schwarzem Grund

Hauptstadt: Shelann


In ein dichtes Netz aus Geheimnissen verwoben liegt Jishya im Osten von Atharys. Kleinere Inseln umgeben sie wie Perlen, was der Inselgruppe den Namen „die Perlen“ eingetragen hat, sie jedoch gleichsam wie eine Festung wirken lässt, die von Wachtürmen umgeben wird. Und tatsächlich ist dieses Bild bedeutsam für Jishya, denn so offen das Volk der Perlen sein mag, so verschlossen ist es, sobald Fremde die Nase in seine Traditionen und Gebräuche stecken möchten.


Reisende lernen meist nur die oberflächliche Seite Jishyas kennen. Die Gastfreundschaft, die in alten Tradition verwurzelt ist und einem Gast den Status eines Gottes verleiht, der mit Speisen und Getränken geehrt wird. Die Kirschblüte, die Jishya und die Perlen in ein Blütenmeer verwandelt. Die Ruhe der gepflegten, duftenden Gärten, die wilde Schönheit der rauschenden Wasserfälle und unter Weiden verborgenen Teiche.


Jishya wirkt malerisch und friedlich. Das Volk strahlt eine tiefe innere Ruhe aus, die man an keinem anderen Flecken von Atharys findet. Die Jishesen genießen es, die Natur zu formen, ohne ihr ihren Willen aufzuzwingen. Ihre Gärten und Parks sind voller Singvögel, die ihr melodisches Lied in trällern und der Wind weht über das Schilfgras, das kleine Teiche umrahmt. Es ist ein Land hoher Berge und flacher Täler, kleiner Dörfer und prachtvoller Städte. Eine Welt aus zarten Farben und Stille.


Und trotzdem gibt es selbst in der Fremde vielerlei Gerüchte, die sich um das Reich der Ewigen Kaiserin ranken. Geschichten von Geistererscheinungen und den Auserwählten der Ahnen, die mit den Toten sprechen können und durch die Welt der Geister wandeln. Jedes winzige Dorf verfügt über einen Schrein der Ahnen und eine Geisterseherin, die mit diesen kommunizieren kann und sie hütet. Die Jishesen wenden sich nicht an die Götter, wenn sie beten. Sie richten sich an jene, die vor ihnen gelebt haben. Die Geister ihrer Blutlinien und Familien, aus deren Weisheit und Rat sie Kraft beziehen.


In den Schreinen der Jishesen finden sich die sagenumwobenen Seelensteine. Raue Kristalle, von denen es heißt, dass jeder von ihnen eine Ahnenseele in sich trägt. Manchen von ihnen fehlen Splitter, die aus dem Stein gebrochen wurden, weil sie ihrem Träger Weisheit und Glück schenken sollen. Tragen die Gläubigen anderer Religionen die Abzeichen ihres Glaubens, so verfahren die Jishesen auf dieselbe Weise mit ihren Ahnen.


Manchmal erzählt ein Beobachter sogar, dass die Splitter der Seelensteine ein sanftes Licht ausgeströmt haben - eine geisterhafte Erscheinung, die auf Fremde sehr beunruhigend wirken kann. Fest steht, dass die Toten der Jishesen nicht ins Seelenmeer gehen und dort ihrer Wiedergeburt harren, sondern in die Seelensteine gelangen. Doch warum dies geschieht, weiß womöglich allein das Volk von Jishya - und dieses wird das Geheimnis gewiss niemals offenbaren.


Das Volk von Jishya führt auf den Dörfern oft ein einfaches Leben. Ackerbau und Viehzucht - ein starker Gegensatz zu dem Prunk, der in den Städten üblich ist. Die Jishesen rühmen sich ihrer feinen Seidenstoffe, die auf ganz Atharys begehrt sind und den Reichtum ihrer Städte mehren. Wer ein einziges Mal die hohen, von Gold verzierten Gebäude der Hauptstadt Shelann gesehen hat, ahnt, dass die Schatzkammern Jishyas vor Reichtum überquellen müssen.


Insbesondere der Phönixpalast verdeutlicht dies. Das höchste Bauwerk Shelanns, das von einem riesigen goldenen Phönix mit ausgebreiteten Schwingen geziert wird. Heim der Ewigen Kaiserin, jener geheimnisvollen Kreatur, von der man sagt, dass sie am Ende ihres Lebens immer wieder aus ihrer Asche wiedergeboren wird. Ewig weise, mit dem Wissen unzähliger Inkarnationen gesegnet und unsterblich. Niemand hat je in ihr Gesicht geblickt, denn keine Seele darf je das unverschleierte Gesicht der Kaiserin sehen. Ob sie ein Mensch ist, eine Göttin oder eine Kreatur, so alt wie die Zeit - niemand weiß es zu sagen. Doch wann immer die Ewige Kaiserin spürt, dass ihr Ende nah ist, begibt sie sich in die Umarmung des goldenen Phönix, wo sie vor den Augen ihres Volkes von den Flammen verzehrt und wieder neu geboren wird.


Die Jishesen verehren ihre Kaiserin. Sei es, weil sie ihr tatsächlich treu ergeben sind - oder weil man wispert, dass es kein gutes Ende nimmt, wenn man sich ihr widersetzt. Es gibt Gerüchte über Meuchelmörder, die vom Palast aus jeden zum Schweigen bringen, der die Kaiserin und ihr Gesetz infrage stellt. Und deswegen hat sich im Verborgenen der Bund der Goldenen Schlange gebildet. Jene Vereinigung aus Kriegern, die sich auf atemberaubende Weise der Kampfkunst bedienen, und Gelehrten, die geschworen haben, das Geheimnis um die Kaiserin für alle Zeit zu lüften. Für Jishya und die Freiheit seines Volkes. Denn eines ist gewiss - wer unter der Herrschaft der Ewigen Kaiserin lebt, kann niemals wahrhaft frei sein. Und dies mag am Ende eines der am besten verborgenen Geheimnisse von ganz Jishya sein.


Shelann

Der Phönix aus der Asche


Shelann ist Macht. Wohin man blickt, ist die Stadt der Ewigen Kaiserin wie eine Demonstration ihrer Macht und ihres Glanzes. Die Gebäude sind hoch, beinahe, als wollten sie den Himmel berühren. Gold glänzt an Fassaden und vermischt sich dort mit leuchtenden Farben, als wollte Shelann jeden einzelnen Blick auf sich ziehen. Damit niemand sich von ihrer Pracht abwenden kann.


Wer durch die Straßen Shelanns geht, muss sich zwangsweise klein und unbedeutend fühlen. Im Palastbezirk wirken die Gebäue beinahe erdrückend. Erhaben und schön, gewiss. Und hinter ihren Mauern mögen sich luftige Parks mit ausgeklügelten Bauplänen verstecken, Gärten voller Blumen, die süß duften und endlos weit wirken. Doch ihre Fassaden sind einschüchternd, als sollte niemand je an ihrer Macht zweifeln. Goldene Drachen zieren die Mauern, die Mäuler geöffnet, um spitze Zähne zu offenbaren. Zähne, die zubeißen können, wenn man sie verärgert. Sie weisen auf die Wurzeln der Jishesen hin und sind ein beliebtes Symbol, das sich in der ganzen Stadt wiederfinden lässt - und keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass diese sich ihres Erbes erinnern.


Doch Shelann besitzt auch ein freundliches Gesicht. Jenes, das man erblickt, wenn man durch den Händlerbezirk wandert und seine Eindrücke in sich aufnimmt. Hier wirkt die Stadt wie ein Farbenmeer. Bestickte Seidenbanner wehen im Wind. Die außergewöhnlichen Formen der Dächer und die bunt leuchtenden Fassaden der Gebäude wirken so lebhaft wie die lebendigen Straßen. Prachtvolle Seidengewänder weisen bereits auf das Handwerk der Seidenweberinnen hin, deren Waren man an jeder Straßenecke erwerben kann. Vor allem der Schneiderbezirk sticht dabei hervor - das Heim der Seidenraupenzuchten, Weberinnen und Schneider. Doch auch andere Erzeugnisse erfreuen sich in Shelann größter Beliebtheit und werden kunstfertig hergestellt. Seien es die Porzellanmalereien oder der feine Tee, der auf Feldern außerhalb der Stadt angebaut wird und nirgends ein reicheres Aroma besitzt.


Die einzelnen Geschäfts- und Marktbezirke sind sauber voneinander getrennt. Shelann ist geordnet, alles sitzt an seinem Platz, gleich einer riesigen Blüte, die sich um den zentralen Marktplatz ausdehnt. Eine Familie bleibt traditionell stets bei ihrem Handwerk und gibt dieses durch die Generationen weiter. Es ist ihr nicht erlaubt, in ein anderes zu wechseln und wer es dennoch versucht, hat mit Strafen oder einem Bann durch die Kaiserin zu rechnen. In Shelann herrscht ein strenger Glaube an eine Ordnung, der jeder Einzelne unterliegt. Und die Ewige Kaiserin sorgt mit eiserner Hand und der Strenge ihrer Wache dafür, dass diese eingehalten wird. Denn so schön Shelann für das Auge wirken mag, so sehr das Volk an bunt gefiederte Vögel erinnert, es lebt in einem Käfig, in dem niemand wahrhaft frei ist.


Jedes Jahr ist der Geburtstag der Ewigen Kaiserin zum Sommerbeginn der höchste Feiertag der Jishesen und in Shelann fallen die Feierlichkeiten besonders prächtig aus. Es sind die Tage, an denen die Jishesen ihre schönsten Kleider tragen und Shelann sich in Blütenduft und Seide hüllt. Der Palast kommt für die Speisen und Getränke auf und bezahlt Musiker und Artisten, die ihre atemberaubenden Künste darbieten. Feuerwerk entflammt in der Nacht vor dem Tag ihrer Geburt den Himmel. Feurige Phönixe tanzen über den Palastmauern und am Morgen zeigt die Kaiserin sich dem jubelnden Volk. Es ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen sich sie Ewige Kaiserin offen zeigt und so zieht der Anlass viele Schaulustige in die Stadt, die einen Blick auf diese sagenumwobene Gestalt erhaschen möchten.


Doch es gibt auch Armut in Shelann. Baufällige Hütten im Hafenbezirk und außerhalb der Stadtmauern, die sich eng aneinanderpressen. Schmutzige Gassen und Menschen, die in farblose Gewänder aus grobem Leinen gekleidet sind, weil sie sich die Seide Shelanns nie in ihrem Leben würden leisten können. Es ist das Heim der Arbeiter, das Zuhause all jener, deren Handwerk als unwürdig und unrein angesehen wird. Es sind jene, die ihr Leben lang nichts anderes kennen als Arbeit, um die Pracht in Shelann zu erhalten, ohne selbst je etwas anderes als Elend zu erleben oder es sich erhoffen zu dürfen. Dies ist das andere Gesicht der Stadt der Ewigen Kaisern. Die Asche, die nach dem Aufstieg des Phönix’ zurückbleibt. Es ist die verborgene Stadt, die kein Würdenträger oder hochgestellter Besucher je zu Gesicht bekommt. Niemand spricht darüber, niemand, der genügend Gold besitzt, sieht die Armen je an. Es ist, als hätte die Welt ihre Existenz vergessen.


Nur die Goldene Schlange sieht. Sie hilft, wo sie helfen kann und gibt, was sie zu geben hat, während ihre Blicke immer wieder zum Palast wandern. Zu den goldenen Flügeln des Phönix, die mit dem Blut und den Tränen des Volkes erkauft worden sind.