Schattenwandler

Blut ist Macht

Er war wie die Nacht. Haar wie schwarze Seide und sternenbleiche Haut. Strähnen fielen wirr in sein Gesicht und verhüllten es. Er atmete schwer. Seine Finger waren gekrümmt, als müsste er um Beherrschung ringen. Mächtige Schwingen ragten über seinem Rücken auf, rabenschwarzes, schillerndes Gefieder, das alles Licht schluckte. Es verriet, was er war.

Schattenwandler.

Er konnte sie töten, noch ehe sie einen Schritt getan hatte, und sie würde es erst bemerken, wenn das Licht für immer erlosch.

Es heißt, dass die Schattenwandler einst von Hexen geschaffen wurden, um die Dämonenherrscher in einer letzten großen Schlacht aus Gemea zu vertreiben. Und ebenso heißt es, dass sie sich dann gegen ihre Erschaffer gewandt haben, um jenen bitteren Krieg mit ihnen zu beginnen, der zu Seraphias Fluch geführt und ihnen die Freiheit genommen hat.


Allerdings ist dies nicht die ganze Geschichte. Die Wahrheit liegt in der Dunkelheit und wird eines Tages Gemea erschüttern. Doch noch ist dieser Tag fern.


Schattenwandler tragen das Erbe der Dämonen in sich und zeigen genug von ihren Fähigkeiten, um wahrhaftig furchterregend zu wirken. Klauen, die sich aus Schatten bilden, Reißzähne, die mühelos Fleisch zerreißen können, Körper, die sich in Schatten auflösen. Kräfte, die weit über die eines Menschen hinausgehen. Die herrschende Familie der Angelis besitzt sogar Schwingen, die sie aus den Schatten herbeirufen können, um sich in die Lüfte zu erheben.


Allerdings besitzt diese Macht einen hohen Preis, denn sie nährt sich aus Blut. Schattenwandler benötigen Blut, um die Magie in ihrem Blut anzufachen und sich stark zu halten, und sie haben selten Schwierigkeiten damit, es zu erlangen. Um ihren Biss ranken sich Gerüchte, die wohlerzogenen Damen die Röte ins Gesicht treiben - die ihn jedoch auch allzu verführerisch erscheinen lassen.


Der Schattenwandler-Adel ist bekannt für rauschende Feste, auf denen Bluthuren zugegen sind und bei denen Blut anstelle von Wein gereicht wird. Eine Tatsache, die nicht dazu führt, dass man ihnen ohne Furcht begegnet. Ein Schattenwandler ist und bleibt ein Raubtier, sein Ruf dunkel und von unzähligen Geschichten umgeben, die ihn kaum jemals in einem guten Licht dastehen lassen. Und diese erzählen auch davon, dass die Mächtigsten unter ihnen dem Blutwahn verfallen können. So wie Nicodeo Angelis, der Vater des regierenden Fürsten, der vor Jahren ein ganzes Bluthurenhaus ausgelöscht hat.


Schattenwandler sind wie ein Stück der Nacht und beginnen ihr Leben erst, wenn der Mond am Himmel steht. Denn durch Seraphias Fluch sind sie lichtempfindlich geworden. Zwar tötet das Sonnenlicht sie nicht, wenn sie bei der Vollmondzeremonie das Sonnenblut der Hexen entgegengenommen haben, doch sie empfinden allzu starke Sonnenstrahlen dennoch als unangenehm. Bei der Zeremonie kommen Hexen und Schattenwandler zusammen und die verbundenen Familien tauschen die Gaben aus, die Seraphias Flucht ihnen aufgezwungen hat. So wie Schattenwandler keine Sonne ertragen, erkranken Hexen am Mondwahn. Einem geheimnisvollen Leiden, das ihren Geist verwirrt und den Körper verwittern lässt. Allein die Mondtränen eines Schattenwandlers können sie davor bewahren. Und so sind beide Parteien gezwungen, den Frieden zu wahren, wenn sie überleben wollen.


Schattenwandler sind ihrem Dämonenerbe noch stark verbunden. Sie beten zu den Elementgöttern und halten wenig von den Kirchen des Lichts, die auf Atharys vorherrschend sind.


Ihr Machtgefüge basiert auf dem Gesetz des Stärkeren. Somit verlangt die Tradition, dass sich der regierende Fürst in der ersten Halbmond-Nacht eines Mondlaufs seinen Herausforderern stellt und seinen Thron verteidigt. Zumindest dann, wenn es einen Herausforderer gibt, der es wagt, um den Thron zu kämpfen. Die wenigsten tun es, seitdem die Angelis den Fürstenthron innehaben.


Schattenwandler-Fähigkeiten

Schattenwandler weisen eine Vielzahl von unterschiedlichen Fähigkeiten auf. Die meisten von ihnen sind in ihrem Erbe verankert und treten bei Mitgliedern ihrer Familie ebenso auf. Andere erscheinen sehr individuell.

Allen Schattenwandlern gemein ist die schnell einsetzende Wundheilung, sowie eine große körperliche Stärke, die die Kraft eines Menschen bei Weitem übersteigt. Schattenwandler heilen Wunden beinahe auf der Stelle, wenn sie genügend fremdes Blut in sich aufgenommen haben. Nur tiefe Wunden oder jene, die an tödlichen Stellen gesetzt werden, können unter Umständen zu langsam heilen, um eine Lebensgefahr auszuschließen.

Zudem besitzt jeder Schattenwandler die Fähigkeit, scharfe Klauen erscheinen zu lassen. Diese erscheinen für gewöhnlich aus einem dunklen, schattigen Wirbel und sind scharf wie Messer. Beinahe kein Schattenwandler bedient sich echter Waffen, weil sein Körper bereits eine tödliche Waffe darstellt.


Bekannte oder häufig auftretende Schattenwandler-Fähigkeiten sind:

Flüssiger Schatten

Der Körper des Schattenwandlers schmilzt zu flüssiger Tinte, die über den Boden oder an einem festen Untergrund hinauf gleitet und kaum ein Hindernis kennt. Kein Angriff kann ihn treffen, solange er in dieser Form verweilt, allerdings gilt dies auch für den Wandler selbst. Um in einem Kampf Schaden anzubringen oder etwas zu greifen, muss er Teile seines Körpers aus diesem Tintenschatten manifestieren - und riskieren, dass dies ihn angreifbar macht.

Mentale Fähigkeiten

Wortlose Kommunikation über den Geist ist die wohl am Häufigsten verbreitete mentale Fähigkeit, die bei Schattenwandlern auftritt. Allerdings können die Geisteskräfte noch weitaus stärker ausgeprägt sein - sodass ein Wandler einem anderen Wesen Dinge einflüstert, während dieses glaubt, dass es diese aus freiem Willen wünscht oder tut. Auch Trugbilder kann diese Fähigkeit erzeugen. Wahnbilder, Halluzinationen, die zwar nur flüchtig anhalten, aber durchaus in der Lage sind, lange genug zu täuschen, um ein gewünschtes Resultat zu erzeugen.

Muskelwachstum und hohe Regeneration

Eine Fähigkeit, die mit enormen Kampffähigkeiten einhergeht, ist wohl diese. Schattenwandler, die über eine gesteigerte Körperkraft verfügen, verändern sich vor dem Auge eines Beobachters. Sie bilden sichtbar Muskeln aus, wachsen sogar, um ihren Gegner zu überragen. Damit einher geht eine gesteigerte Wundheilung, sodass sie Wunden schneller heilen können als ein gewöhnlicher Schattenwandler. Es verwundert nicht, dass dieses Talent einen Schattenwandler zu einem gefürchteten Gegner macht.

Rauch

Rauchwandler gehören gewiss zu den mächtigsten Schattenwandlern. Dafür sorgt ihre Fähigkeit, ihren Körper blitzschnell ganz oder teilweise in Rauch zu verwandeln, der weder eingefangen noch gefasst werden kann. Ähnlich wie ein Tintenschatten kann ein Rauchwandler im Kampf kaum gefasst werden und kennt kein Hindernis. Anders als dieser braucht er jedoch keinen festen Untergrund, um sich fortzubewegen. Rauch schwebt. Und er gelangt an jede Stelle, an die er gelangen möchte.

Schattenklingen

Eine sehr tödliche Fähigkeit, die vollständig auf den Kampf ausgelegt ist, ist die Fähigkeit, Klingen aus Schatten zu beschwören und diese auf einen Kontrahenten zu schleudern. Die Schattenklingen sind ebenso tödlich wie Messer und wer sie beherrscht, ist ein furchterregender Gegner. Ein Schattenwandler, der Klingen bilden kann, kann diese auch häufig aus seinen Fingern sprießen lassen - dolchlange Gebilde, die mühelos Fleisch zerschneiden, selbst wenn sie nur im Nahkampf nützlich sein mögen.

Schattenspringen

Die Bewegung von Schatten zu Schatten ist den Schattenspringern zu Eigen. So können sie Entfernungen schnell überwinden und sich wesentlich schneller fortbewegen als die meisten Kreaturen. Mit dem Schattenspringen können Schatten erreicht werden, die sich in Sichtweite des Springers befinden und groß genug sind, um dessen Körper vollständig aufzunehmen.

Schwingen

Schwingen sind die wohl seltenste Form der Schattenwandler-Fähigkeiten. Es sind wenige Familien bekannt, in die geflügelte Schattenwandler geboren wurden - allein in der seit Langem regierenden Fürstenfamilie der Angelis sind sie mehrfach aufgetreten. Oftmals gehören die Schwingen tragenden Schattenwandler zu den stärksten Individuen ihrer Art und sehr oft haben sie den Fürstenthron des Nachthofes eingenommen.

Seelensaugen

Niemand verweilt gerne in der Nähe eines Seelensaugers. Spitze Zähne, schwarze Augen, denen die Pupillen fehlen - der Makel dieses Erbes ist sichtbar für alle, die sehen können. Und ihre Fähigkeit ist womöglich die Dunkelste - denn Seelensauger können Seelen rauben. Die Berührung nackter Haut, die lange genug andauert, und die Seele ihrer Opfer ist für immer vernichtet. Sie sind Meuchelmörder, die in den Schatten leben, niemals in der Gesellschaft geduldet. Und man tötet sie ebenso wie einen Blutgierigen, um die Welt vor ihnen zu bewahren, sobald ihre Existenz bekannt wird.


Sehr selten werden Schattenwandler geboren, die mehr als eine dieser Fähigkeiten in sich vereinen. Es ist bekannt, dass Iago Fabrian, einer der Träger des Silberbandes, sowohl Schwingen besessen hat, als auch ein Rauchwandler gewesen ist. Treten solche Umstände auf, gelten diese Schattenwandler häufig als potenzielle Anwärter auf den Fürstenthron, auf denen oftmals die Hoffnungen ihrer Familie ruhen.


Häufiger treten dagegen Geistige Fähigkeiten in Verbindung mit körperlichen Fähigkeiten auf - ein Beispiel ist der vorherige Fürst, Nicodeo Angelis, der Schwingen besessen hat und auf mentale Talente zugreifen konnte.


Der Biss eines Schattenwandlers

Ihr Handgelenk kribbelte. Ein Nachhall seines Bisses, ein leichtes Jucken. Sie rieb gedankenlos darüber, stockte, als sie glatte, unversehrte Haut unter ihren Fingern fand. Der Schnitt hatte sich geschlossen. Keine Spur war davon zurückgeblieben. Keine Narbe. Nichts.

»Wie ist das möglich?«, hauchte sie entgeistert. »Schattenwandler besitzen keine heilende Magie.«

»Nein, aber wir sind Jäger. Raubtiere, die auf die Stärke angewiesen sind, die unsere Beute uns schenkt. Ohne ihr Blut, das unsere Macht nährt, sind wir kaum stärker als ein gewöhnlicher Mensch. Die Jagd wird einfacher, wenn sie freiwillig zu uns kommt, anstatt davonlaufen zu wollen. Und es ist unklug, die Beute zu zeichnen und damit Unruhe zu schüren. Was uns heilt, kann auch andere heilen. Es ist in uns.« Seine Stimme klang dunkel und seine Augen glühten im Licht der Mittagssonne. Sie ließen das Raubtier nur zu deutlich in Erscheinung treten.




Blut ist unverzichtbar im Leben eines Schattenwandlers. Ohne Blut versagen seine Fähigkeiten. Weder die Wundheilung noch seine Kräfte funktionieren ohne den Stoff, der sein Leben bestimmt. Und so ist er darauf angewiesen, für den Erhalt seiner Stärke an Blut zu gelangen, ohne dass seine Beute mit Gegenwehr reagiert. Sein Körper ist darauf ausgerichtet. Er ist mit Besonderheiten versehen, die es ihm einfach machen, seine Beute freiwillig dazu zu bringen, ihr Blut für ihn zur Verfügung zu stellen.

Der Biss eines Schattenwandlers verursacht niemals Schmerzen. Stattdessen sind es Lust und Ekstase, die er in seinem Opfer hinterlässt. Lust und Ekstase, die jeden Gedanken an Flucht unterdrücken und den Empfänger des Bisses zu einem willigen, wehrlosen Gespielen des Schattenwandlers machen. Es ist eine dunkle Gabe, die manchen schier süchtig danach werden lässt. Niemals lässt er eine Wunde zurück, denn was einen Schattenwandler heilt, heilt auch den Empfänger seines Bisses.


Normalerweise bedienen Schattenwandler sich der Dienste einer Bluthure, um ihren Blutbedarf zu decken. Gemea wimmelt vor Männern und Frauen, die sich fürstlich dafür entlohnen lassen, ihr Blut an einen Schattenwandler zu verschenken. Und in den meisten Fällen besteht dabei keine Gefahr für ihr Leben. Schattenwandler wissen gut, was sie brauchen und wieviel sie nehmen können. Ein leichter Schwindel, eine kurze Zeit der Schwäche, die ohnehin mit dem Nachhall des Rausches verschmilzt, mehr bleibt für gewöhnlich nicht zurück. Trotzdem lässt die Gefahr die Dienste einer Bluthure teuer werden. Manche verbleiben fest im Schoß einer Familie und leben dort fürstlich, ähnlich wie Mätressen oder Günstlinge. Andere unterhalten beliebte, edle Salons für die feine Gesellschaft, in der sie ihre Kunden empfangen. Wieder andere verdingen sich wie Hafendirnen.


Ist das Erbe der Bluthure mit einer Spur Magie versehen, erhöht dies den Wert ihres Blutes enorm. Magisches Blut kräftigt einen Schattenwandler um ein Vielfaches. Es hält länger an und wird in einer geringeren Menge gebraucht. Viele Schattenwandler ziehen den Geschmack von Hexenblut oder Blut aus einer noch exotischeren Quelle dem eines Menschen deutlich vor - allerdings ist es nur selten zu erhalten. Die Gunst einer Bluthure mit einem solchen Erbe kann sehr umkämpft sein - und sie selbst wird selten Not leiden.


Nicht immer nehmen Schattenwandler jedoch den direkten Weg eines Bisses. Manche ziehen es vor, das Blut ohne direkten Kontakt mit einer Bluthure zu konsumieren. Oft wird es dann mit Wein vermischt. Speziell unter Gefährten, die einander in Treue verbunden sind, ist es verpönt, sich des direkten Dienstes einer Bluthure zu bedienen und diese Verbindung auf einer körperlichen Ebene auszuleben.


Blutgier

»Du hast die Wahl, mein Sohn. Meide das Blut und du wirst so schwach werden, dass du den Thron verlierst. Gib Gemea in die Hände eines anderen und der Blutrausch wird dich vielleicht verschonen. Falls du es überlebst.«

»Und Gemea wird dafür in Blut ertrinken.«

Nicodeo nickte bedächtig. »Du oder die Stadt. Das Schicksal unseres Geschlechts. Der Kampf, der niemals enden wird.«




Niemand weiß genau, worin die Blutgier, die geheimnisvolle Krankheit der Schattenwandler, wurzelt. Man munkelt, dass es ein Übermaß an Macht ist, die in den Adern der Betroffenen schlummert, und das zu viel Blut braucht, um genährt zu werden. Eine andere Erklärung ist der Missbrauch dieser Macht - die Tatsache, dass zu viel Blut konsumiert wird, um die Fähigkeiten eines Schattenwandlers zu stärken. Gewiss ist, dass die Blutgier durch das konsumierte Blut immer stärker wird, bis es den Verstand des Blutgierigen verschlingt und ihn die Kontrolle verlieren lässt. Ungewiss ist jedoch, ob die Krankheit erblich ist. Ob sie in einer Familie über das eigene Blut weitergegeben wird oder ob sie zufällig auftritt.


Blutgierige empfinden Lust, wenn Blut fließt. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Blutgier weiter fortschreitet, kann sich diese in Freude am Töten verwandeln. Beendet der Schattenwandler die Sucht nach dem Blut auch dann nicht und hält er sich nicht davon fern, kann sie sich zu einem rauschhaften Zustand steigern, in dem er zu einer blutgierigen Bestie wird, die tötet, ohne länger zu erkennen, wen er in seinem Wahn zerreißt. Ein Schattenwandler, der von der Blutgier übermannt wird, erkennt weder Freund noch Feind. Er könnte selbst seinen eigenen Gefährten töten, ohne Reue zu empfinden, bis der Blutrausch schwindet und ihn mit der Erkenntnis dessen zurücklässt, was er getan hat. Ohnehin leben viele blutgierige Schattenwandler mit einer extremen Schuld, die stärker wird, sobald sie beginnen, Leben zu nehmen.


Schattenwandler töten Blutgierige, sobald diese Neigung offen zum Vorschein kommt. Zu gefährlich wäre es, sie am Leben zu lassen und zu warten, bis die Blutgier ihren Verstand zerstört. Ein bekanntes Beispiel aus der neueren Vergangenheit ist das Schicksal von Nicodeo Angelis, dem Vater des aktuellen Schattenfürsten, der im Blutrausch ein ganzes Bluthurenhaus ausgelöscht hat, bis er von seinem Sohn im Kampf getötet wurde.


Im Gegensatz zu anderen Krankheiten des Geistes lässt sich die Blutgier nicht durch ein geteiltes Erbe aufhalten. Auch die Nachkommen von Schattenwandlern und Hexen können davon betroffen sein.


Die Herausforderung des Fürsten

Dameo sah auf den anderen hinab. Er war ihm an Körpergröße überlegen, obwohl der Silberhaarige muskulöser wirkte. »Das kommt darauf an, wie weit Ihr für Eure Überzeugungen zu gehen bereit seid.«

»So weit Ihr mich zu gehen zwingt, um sicherzustellen, dass kein Schattenwandler je das Haupt vor einer Hexenhure neigen muss.«

Hitze schoss durch das Silberband. Ein zorniger Rausch, der durch Dameos Adern strömte. Er zog einen schmalen, sichelförmigen Dolch unter seinem Gehrock hervor und schleuderte ihn zu Boden. Das Metall blieb zitternd mit der Spitze in dem dicken Teppich stecken.

Ein Duelldolch. Eine unausweichliche Herausforderung.

»Dann trefft mich in der Arena«, befahl er kalt.

Seine Worte donnerten durch den Saal wie die Vorboten eines Gewitters und das Stimmengewirr, das ihnen folgte, rauschte in Alyseas Ohren. Der Silberhaarige neigte spöttisch das Haupt. »Wie Ihr wünscht, mein Fürst.«




Stärke. Sie ist die höchste Währung im Leben der Schattenwandler. Und der Stärkste von allen nimmt den Thron des Nachtfürsten ein. Jeder Erbe eines Nachtfürsten muss sich beweisen, sobald er den Thron des Nachthofes besteigt. Und er muss es in jeder Neumondnacht von Neuem, sobald es einen Herausforderer gibt, der den Mut aufbringt, mit ihm um den Thron zu kämpfen.


Seit langer Zeit gibt es nur noch selten Herausforderer, die es wagen, sich einem Angelis-Fürsten zu stellen und mit diesem um den Thron zu ringen. Die Kämpfe gehen gemeinhin bis zum Tod - und dieser muss zwingend mit dem Mondsicheldolch, einer rituellen Waffe, herbeigeführt werden, auf keinen Fall auf eine andere Weise. Der Gegner darf in jeder Hinsicht geschwächt werden - doch sein Tod ist unbedingt zu vermeiden, will der Sieger durch einen regelwidrigen Tod sich nicht sofort im Anschluss dem nächsten Herausforderer stellen. Denn wer seinen Gegner ohne den Dolch tötet, darf auf der Stelle erneut herausgefordert werden. Geschwächt und von dem vorherigen Kampf gezeichnet. Es ist kaum besser, als sich einem hungrigen Wolfsrudel zu stellen.


Vor dem Kampf wird der Dolch in der Mitte der Arena des Nachthofes platziert und beide Kontrahenten versuchen, diesen an sich zu bringen, um damit den tödlichen Stoß auszuführen. Es ist nicht nur ein Kampf, der mit der größten Stärke entschieden wird - auch Geschick ist nötig, um aus dieser Herausforderung als Sieger hervorzugehen.


Normalerweise hält der Fürst in der Neumondnacht Hof und trägt dann auch stets den Mondsicheldolch bei sich. Es ist stets eine große Audienz, bei der Streitigkeiten entschieden und geschlichtet werden - und manchmal auch in der Arena ausgekämpft werden müssen, wenngleich diese Kämpfe nicht immer bis zum Tode gehen. Im Anschluss stellt der Fürst selbst sich einer Herausforderung - insofern diese vorgebracht wird.


Die Kämpfe in der Arena unterliegen einer Reihe von Gesetzen. Dabei wird stets vorher festgelegt, welche Fähigkeiten zum Einsatz kommen dürfen. Und es ist auf keinen Fall gestattet, den Kampf in irgendeiner Weise zu manipulieren. Kommt ein solcher Versuch zum Vorschein, bedeutet es das Todesurteil für denjenigen, der den Regelbruch begangen hat.


Das Silberband

Fahrig strich er das Haar aus seinem Gesicht. Blutspuren zogen sich über seine Haut. Hinterlassenschaften der Glaskuppel, die er zerstört hatte, doch die Wunden darunter heilten bereits. Feine Glassplitter hatten sich in seinem Haar verfangen und Alysea schauderte, als sie erfasste, welche Kraft seinem Körper innewohnen musste. Seine Hand sank herab und seine Stirn legte sich in Falten, als er darauf blickte. Alysea folgte seinem Blick zu dem silbernen Flimmern und keuchte erschrocken auf, als sie den Silberfaden fand, der von ihrem Puls ausging. Vorsichtig ergriff sie das feine Band mit den Fingerspitzen. Ein Kribbeln lief über ihre Haut, als sie daran zupfte, doch es löste sich nicht.

Der Schattenwandler sog zischend den Atem ein und rieb über sein Handgelenk, an dem sein Ende des Fadens seinen Ursprung hatte. »Nicht.«

Es bereitete ihm Schmerz. Sein scharfer Nachhall pulsierte durch das Band und übertrug sich schwächer auf sie selbst.

Seraphias Fluch.

Alysea spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Schwäche drang in ihre Glieder, als sie verstand.




Das Silberband, die geheimnisvolle Hochzeit der Schattenwandler. Eine tiefe Verbindung zweier Seelen, die sie das Leid und die Freude des anderen spüren lässt. Ist es geschlossen, so teilen die Gefährten Gefühle und Schmerz, sie legen ihre Seelen bloß, ohne noch einen Funken davon zu verbergen.


Schattenwandler treten nicht vor einen Altar, wenn sie sich binden. Sie verknüpfen ihre Seelen in einer intimen, mit einem Liebesakt verbundenen Zeremonie. Dieser geht eine Vielzahl von Prüfungen voraus, die die Schattenwandlerin ersinnt, um die Hingabe und Würdigkeit ihres potenziellen Gefährten auf die Probe zu stellen. Diese Zeit wird von einer Spanne der Enthaltsamkeit begleitet, die so lange andauert, wie die Schattenwandlerin es verlangt. An ihrem Ende muss jedoch nicht zwingend ihre Einwilligung stehen. Die meisten männlichen Schattenwandler sind in dieser Zeit sehr reizbar und man begegnet ihnen mit einer gehörigen Vorsicht.



Dameo schnaubte. »Im Moment würde ich lieber feststellen, wie viel Schmerz die Martean ertragen können. Ich bin Adias Bruder. Sicher steht mir ein Anteil an der Prüfung ihres Bewerbers zu.«

»Wandlerfrauen entscheiden allein. Ich fürchte, selbst ein Fürst besitzt keine Macht darüber.« Neveas streckte sich und hob die Schultern. »Du wirst abwarten müssen, wie lange sie meinem Charme standhalten kann.«

»Bis in alle Ewigkeit. Ich kenne all deine süßen Worte zu gut.« Adia lächelte süßlich. »Du wirst dir etwas Besseres einfallen lassen müssen.«

»Du weißt, dass ich für dich sterben würde. Es ist an dir, herauszufinden, auf welch andere Weise du meine Hingabe prüfen möchtest.« Er sagte es mit einer solch entwaffnenden Ernsthaftigkeit, dass Adia den Blick senkte. Eine beklommene Stille trat ein und ungesagte Worte erfüllten die Luft.



Nach dem Knüpfen schenkt der männliche Schattenwandler seiner Gefährtin für gewöhnlich ein Symbol für ihre Verbindung. Oft ist dies ein wertvolles Erbstück aus der Familie, das symbolisiert, dass sie in diese aufgenommen wird. Häufig sind dies Ringe, es können jedoch auch andere Schmuckstücke sein, die anschließend von der Schattenwandlerin getragen werden.


Natürlich sind auch Feierlichkeiten oder weitere Zeremonien keine Seltenheit. Diese unterscheiden sich von Familie zu Familie - sehr häufig beinhalten sie neben Glückwünschen auch traditionelle Gaben und Segnungen der restlichen Familienmitglieder.


Dicht mit dem Silberband ist der Schutzinstinkt des männlichen Parts verbunden. So wird dieser auf jede Bedrohung seiner Gefährtin reagieren und sie keinesfalls dulden. Blutige Kämpfe, um eine Brüskierung oder einen Angriff zu sühnen, sind keine Seltenheit. Diese Eigenheit geht auf den eigentlichen Sinn des Silberbandes zurück: den Schutz der körperlich schwächeren Frauen als Wiege des Lebens. Dieser entstammt dem Dämonenreich, in dem Kinder selten und kostbar sind, weswegen sowohl Frauen als auch Kinder um jeden Preis geschützt werden müssen.


Dämonen selbst unterscheiden zwischen Seelenbanden und dem Silberband. Ein Seelenband ist eine deutlich schwächere Form des Silberbandes, das aus freiem Willen geknüpft wird, während das Silberband ein unfreiwilliges Band bezeichnet, das von höheren Mächten bestimmt wird. Dieses soll die stärksten Nachkommen zur Folge haben - gemeinhin Kinder, die eines Tages eine wichtige Rolle im Gefüge der Welt spielen werden oder die besten Eigenschaften ihrer Eltern vereinen. Diese Facette des Silberbandes ist in Gemea jedoch weitgehend unbekannt.


Das wahre Silberband geht so tief, dass Gefährten ohne Worte kommunizieren können und auf die Fähigkeiten des anderen zugreifen, als wären es ihre eigenen. Sie stärken und nähren einander, können sogar einen Körper teilen. Dieses Wissen ist allerdings für das Volk von Gemea verloren - bis es eines Tages wieder ans Tageslicht kommen mag. Bekannt geblieben ist jedoch, dass es den Tod für beide Gefährten bedeutet, wenn einer von ihnen sein Leben lässt. Anders als den Dämonen Ethreas fehlt den Hexen und Schattenwandlern Gemeas die Kenntnis der Wege, das Band zu zerschneiden und den Tod zu verhindern.


Das Silberband kann nur zwischen Schattenwandlern oder mit Dämonen und Dämonenblut geschlossen werden. Das Silberband durch Seraphias Fluch ist eine Ausnahme, deren Beschaffenheit bislang nicht ergründet werden konnte.


Hinweis: Schattenwandler können zum momentanen Zeitpunkt der Geschichte nicht außerhalb von Gemea gespielt werden. In anderen Teilen der Welt würde man also eher Halbbluten begegnen und keinem wahrhaftigen Schattenwandler, da diese durch Seraphias Fluch ortsgebunden sind.