Kinder des Windes

Die Töchter und Söhne des Windes

Die Finger des Windes verhedderten sich in meinem Haar und lenkten mich von meinen Gedanken ab. Nicht immer war er so greifbar und deutlich zu vernehmen wie heute. Manchmal waren es nur Gefühle, die er übertrug, zu anderen Zeiten waren seine Worte so klar wie die eines Menschen. An manchen Tagen war er weise wie eine alte Frau, an anderen naiv und verspielt wie ein Kind. Jetzt lag ein Kichern in der Luft, als er mir spielerisch die die Strähnen in die Augen pustete.

Und doch floss Menschenblut in meinen Adern und ließ mich zu niemandem gehören.

Ich öffnete die Lippen, um zu antworten, als ein vielstimmiger Schrei aus allen Himmelsrichtungen erklang: »Gib Acht, Windtochter! Gib Acht!«

Ein heiseres Knurren drang vom Waldrand herüber. Der Windgeist schreckte auf und flitzte mit einem Quietschen in mein Haar, um sich darin zu verbergen. Hitze breitete sich in meinen Adern aus. Ich hielt den Atem an, als ich langsam den Kopf drehte.

Sie sind das Wandernde Volk. Stets ruhelos, stets vom Wind über das Land getrieben und nicht in der Lage, an einem Ort feste Wurzeln zu schlagen. Denn der Wind treibt sie immer davon. Gleichsam wie ein Blatt, das ziellos auf seinen Strömen schwebt.


Sie vernehmen die Stimme des Windes und sehen die Windgeister, die für gewöhnliche Menschen unsichtbar sind. Es mag eine Gabe sein, die von den Dämonenherrschern hinterlassen worden ist. Von den Winddämonen, die für eine Weile Atharys besucht haben, aber kein Kind des Windes weiß es heute noch genau.


Kinder des Windes verbergen ihr Talent jedoch gut. Wer mit dem Unsichtbaren spricht, ist weise, wenn er dies nicht offen tut. Nur zu leicht werden sie sonst für verrückt gehalten und es genügt, dass man ihnen ohnehin mit Misstrauen begegnet. Ebenso flüchtig wie der Wind. Heute hier, morgen dort. Unstet. Sie nehmen, was sie bekommen und verschwinden dann. Niemand ist gut beraten, Freund eines Windkindes zu sein. So sagt man. Und so haben viele Windkinder mit diesen Vorurteilen zu kämpfen. Es fällt ihnen schwer, Freundschaften zu schließen, obgleich es nicht an ihnen selbst liegt, denn ihre Reisen machen sie offen und sie begegnen anderen Menschen stets mit Freundlichkeit.


Viele Kinder des Windes verdingen sich als Schausteller. Sie ziehen mit ihren bunten Wagen übers Land, auf der Suche nach Publikum, das an ihren Waren oder Künsten interessiert ist. Durch ihre Reisen führen sie häufig exotische Waren mit sich, die sie verkaufen oder eintauschen. Und so sind sie gleichermaßen gern gesehen wie man sie auch gern wieder gehen sieht. Denn böse Zungen behaupten zu oft, dass Kinder des Windes ihre Finger nicht in ihren eigenen Taschen behalten. Und wem sagt man lieber die Schuld für ein fehlendes Schmuckstück nach als einem Fremden? Dem Ruf der Kinder des Windes hilft es nicht. Dem des wahrhaftigen Diebes jedoch schon.


Zudem verdingen sich viele als Wahrsager, die angeblich in die Zukunft blicken können, ihr Wissen allerdings nur aus den Einflüsterungen des Windes beziehen. Denn der Wind schützt seine Kinder. Wenngleich sie selbst nicht über Magie verfügen, warnt er sie, wenn Gefahr droht, tröstet sie, wenn sie unglücklich sind oder er sendet ihnen einen Hinweis in seinem Flüstern, der ihnen weiterhilft. Und so ist ein Kind des Windes niemals allein. Denn der Wind ist ihm Familie, Freund und Heimat, ein treuer Begleiter, wo auch immer es wandern mag.