Drachengeborene

Könige einer verlorenen Welt

Iasyn musterte seinen Bruder. »Und ich habe niemals gefragt, wie es ist, ohne Drachenherz unter Drachen zu leben.«

Damasian lächelte schief und zuckte mit den Schultern. »Ich hätte dir keine Antwort gegeben.«

Iasyn schnaubte. »Und jetzt?«

»Jetzt …« Damasian blickte zu den goldenen Flügeln auf, die das Portal schmückten. »Jetzt sage ich, dass ich ein verbitterter Bastard gewesen bin, der sich an Ideale geklammert hat, weil es das Einzige gewesen ist, das ihm das Gefühl gegeben hat, denselben Wert zu besitzen wie der Rest seiner Familie.« Der Prinz atmete seufzend aus. »Ein Splitter, Iasyn. Ich trage den Splitter eines Drachenherzens in der Brust und er ist verkrüppelt, wie alle Gliedmaßen, die niemals zu ihrer wahren Funktion erwacht sind. Der Splitter weiß, was er sein sollte und wie er die Gestalt eines Drachen wandeln kann, aber er besitzt nicht die Stärke, es zu tun. Ich spüre die Gestalt, als hätte man mir einen Arm oder ein Bein genommen, ohne die Erinnerung daran in mir auslöschen zu können.«

Und kein erwachtes Drachenherz dieser Welt konnte Damasian die Fähigkeit schenken, die Drachenhaut zu beschwören, die in ihm eingeschlossen war.




Auch Drachen gehören zu den Kreaturen, die Spuren in der Welt der Menschen hinterlassen haben. Die größte Ansammlung Drachengeborener findet sich in Jishya, wohin eine große Anzahl der Drachen des Nordens vor langer Zeit während einer Umwälzung ihrer Welt geflohen ist. Doch auch in Samanhar trifft man Drachengeborene in größerer Zahl. Besonders in Ajaghar haben sie sich angesiedelt und bilden dort aufgrund ihrer angeborenen Macht die herrschende Schicht.


Drachengeborene besitzen auf den ersten Blick wenige Merkmale ihrer Herkunft. Bei vielen sind sie durch die Generationen und die Vermischung mit Menschenblut so gering geworden, dass sie kaum noch erkennbar sind. Eine intensive Augenfarbe, ein leichter Hauch von Schuppen vielleicht - mehr ist es nicht, das einen Drachengeborenen auszeichnet. Doch es gibt auch jene, in denen der Splitter eines Drachenherzens verblieben ist. Diese Drachengeborene sind noch nahe an ihrem Ursprung - was durch geschickte Verbindungen gefördert wurde, die ihre Nachkommen stark gehalten haben. Dennoch ist niemals vorherzusagen, in welchem Drachenkind heute noch die Macht seiner Vorfahren erwacht. Es ist möglich, dass von mehreren Geschwistern nur eines noch einen Splitter in der Brust aufweisen kann, während die anderen keine Anzeichen ihres Erbes zeigen.


Drachengeborene, die noch den Splitter eines Drachenherzens in ihrer Brust tragen, können zu einem gewissen Maß auf ihr Drachenerbe zugreifen. Je nachdem, wie stark dieses Erbe noch ist, können sie Schwingen wandeln, Reißzähne und Klauen ausbilden oder den Schuppenpanzer eines Drachen auf ihrer Haut beschwören. Diese Kraft beziehen sie aus den noch vollständigen oder zumindest zur Hälfte vollständigen Drachenherzen, die beim Verscheiden ihrer Ahnen in der Asche zurückgeblieben sind. Diese Juwelen - Ahnensteine - werden von den Drachengeborenen in hohen Ehren gehalten und streng bewacht. Abgeschnitten von einem Drachenkönig oder einer Drachenkönigin, die das Königsherz ihrer Linie tragen, haben die Kinder der Drachen in der Menschenwelt ihre vollständige Drachengestalt verloren. Beinahe jede Blutlinie besitzt jedoch noch einen eigenen Ahnenstein von einem ihrer mächtigen Vorfahren, ein Gefäß, in das die Kraft der Ahnen eingeht, wenn sie verscheiden, um die Drachenmacht in ihren Nachkommen zu nähren. Es verwundert demnach nicht, dass diese Ahnensteine als heilig gelten.


Ebenso wie die Ahnensteine, wird auch das Wissen um ihre Wurzeln und ihre Herkunft in Ehren gehalten und durch die Generationen weitergegeben. Die Drachengeborenen von Atharys wissen gut, was sie einst gewesen sind. Sie betrauern nicht, was sie verloren haben, denn sie sind freiwillig hinter dem Weltenschleier verblieben oder tragen das verdünnte Erbe seit langer Zeit in sich. Und doch sind sie stolz darauf und wissen gut, dass es sie über einen gewöhnlichen Menschen erhebt. Die meisten von ihnen erkennen die Verantwortung darin und nehmen instinktiv die schützende Rolle ein, die Drachen ursprünglich in ihrer Welt besessen haben, als sie noch die Könige, die herrschenden Kreaturen Ethreas, gewesen sind.


Vier Linien der Drachen hat es ursprünglich gegeben. Vier Urkönige des Drachenvolkes, die diesem das Leben geschenkt und darüber gewacht haben. Die Drachen des Westens, Aristas’ Linie, waren Geschöpfe der Erde. Mächtige Kreaturen, die über das Erdreich befohlen haben und deren Atem Säure über ihre Feinde gespien hat. Die Drachen des Südens, Heleos’ Linie, hat über Sonne und Feuer regiert. Seine Nachkommen sind es, die heute noch über Ajaghar gebieten. Die Linie des Ostens, einst beherrscht von Königin Thasia, gehört dem Wasser an. Ihre schlangenartigen Körper haben die Fluten des Ozeans geteilt und über dessen Gewalt geboten. Und schließlich war es Celestras Linie, die Drachen des Nordens, die heute in einer solch großen Zahl Jishya besiedeln. Sie waren Kreaturen des Windes und des Eises, ihr Atem Frost und der Schlag ihrer Schwingen wie Sturmwind.


Tatsächlich findet man das Erbe Thasias und Aristas’ selten auf dem Grund von Atharys, während Heleos’ Erben zumindest in Samanhar häufig angetroffen werden können. Die Golddrachen von Ajaghar haben sich weitaus weniger mit Menschen vereint als die Drachen Jishyas. Sie halten ihr Erbe rein, während sich Celestras Erbe sehr stark mit den Menschen vermischt hat.