Das Mondreich
Ein dunkler Traum aus Scherben
Das Reich des Mondes war schön, als wäre es einem Märchen entsprungen. Der Himmel war klarer, der Mond heller, die Sterne leuchtender, als sie es je gesehen hatte. Der Wind duftete nach den Blüten, die die Bäume zierten und selbst das Rauschen des kleinen Baches, der sich durch den endlosen Garten schlängelte, klang lieblicher, als sie es je gehört hatte. Die Vögel verstummten auch in der dunkelsten Stunde der Nacht nicht, doch ihr Lied kündete niemals vom Erwachen eines neuen Tages, denn der Morgen kam nie. Dafür erhellten unzählige Lichter die Nacht. Sie saßen in den Bäumen und blitzten zwischen den Blüten der Hecken auf, sie trieben auf dem Wasser oder schwebten in der Luft wie Glühwürmchen. Maja hatte versucht, eines dieser Lichter einzufangen, aber ihre Hand war hindurchgeglitten wie durch einen Geist. Ein Prickeln auf ihrer Haut war alles, was sie gespürt hatte.
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Das Reich des Mondes, niemals vom Licht der Sonne berührt. Das verfluchte Reich der Feen, erschaffen aus Magie und den dunklen Träumen des Feenkönigs. Kein Ort könnte unglaublicher sein als dieses Reich, in dem Wolkenpaläste am Himmel schaukeln und Straßen aus dem Nichts erscheinen.
Das Mondreich erscheint wie ein Traum aus silbergeküsstem Glas. Die zarten Bauwerke, die in der Nacht zu glühen scheinen, die gläsernen Lampen, die von Zweigen hängen, obgleich nirgends eine Seele zu sehen ist. Kein Ort könnte schöner sein und dennoch so falsch und verdreht, dass Staunen schnell in Grauen umschlägt.
Perfekte weiße Rosen, die an einer Mauern hinauf wachsen, entpuppen sich als messerscharfes Glas, das Blut fordert, sobald man es berührt. Bäume lassen Blätter und Blüten auf eine Wiese regnen, bis sie nackt in den Himmel ragen. Bis Dornen anstelle der Blüten aus den Ästen wachsen, die sich nach einem arglosen Wanderer neigen, um seine Haut zu zerreißen und sein Blut zu trinken.
Das Feenreich ist ebenso Albtraum wie Traum. Für den einen mag es wie der Himmel erscheinen, der nächste findet sich unversehens im Abgrund wider, weil er das Missfallen einer Fee erregt hat.
Jede hohe Fee erschafft sich ihr Reich selbst aus ihrer Magie und residiert dort mit ihrem Gefolge aus niederen Feen und gefangenen Menschen. Die eine lebt in einem Palast aus Eis in einer mondbeschienenen Schneelandschaft, die nächste in einem Land des ewigen Frühlings, in dem Blütenduft wie Parfum durch die Luft schwebt. Manche umgeben sich mit makelloser Schönheit, andere mit einer grauenvollen, erschreckenden Hässlichkeit.
Nichts ist unmöglich in diesem Land aus purer Magie. Und dennoch … wer zu lange hierbleibt, erkennt nur zu bald die Kälte und Leere die unter der Oberfläche liegen.
Die Früchte des Feenreiches riechen faulig und besitzen einen abstoßenden Geschmack. Sie sind verschrumpelt und schleimig, zäh oder hart wie Stein. Oftmals sind sie giftig oder verursachen Übelkeit, wenn ein Mensch davon kostet. Beeren besitzen Stachel, Pilze strömen einen widerwärtigen Geruch aus und zerfallen, sobald man sie berührt.
Durchblickt man den Feenzauber, bleibt nicht viel von der Pracht einer Blumenwiese. Denn echte Blüten sind verwachsen und kränklich. Das Feenreich bringt nichts Gesundes hervor. Nur Gewächse, die unter dem Licht des Mondes gedeihen können. Berührt von der ewigen Nacht, die niemals der Sonne weicht.
Trotzdem - wer mit dem verklärten Blick eines Menschen in dieses Reich gelangt, glaubt, niemals eine solche Schönheit gesehen zu haben. Und wer ihm entkommt, wird sich ewig danach sehnen, es noch ein einziges Mal mit seinen eigenen Augen sehen zu dürfen.
Nur eine einzige wahrhaftige Stadt existiert im Reich der Feen. Luënndyl, der Ort, von dem aus der Feenkönig sein Reich regiert. Hier steht sein Palast. Das elfenbeinartige Gebäude mit den unzähligen Türmen, das über jenes weiße Wunder wacht, das sich zu seinen Füßen ausdehnt. Einst hat der König der Feen die Stadt für seine Tochter erschaffen, die sich nach dem Reich der Menschen gesehnt hat, und so ist Luënndyl eine Imitation des menschlichen Stadtlebens. Hohe Feen besiedeln die weißen Villen, die sich an der silbernen Ader des Astryn erstrecken, des Flusses, der Luënndyl teilt. Ein Marktplatz in ihrer Mitte bietet die Waren des Feenreiches feil. Schiffe schwanken im Hafen auf den Wassern des Astryn und bringen einen Strom der feinsten Güter in die Stadt. Prächtige Kutschen fahren durch die Straßen und tragen die Feen an ihren Zielort. Doch obgleich es wirkt, als wäre Luënndyl eine wahrhaftige Stadt, offenbart ein zweiter Blick nur zu schnell, dass sie das niemals sein könnte. Denn all der Handel, all das Leben ist nur eine Illusion. Die lächelnden Gesichter der Händler, die sich als niedere Feen entpuppen. Die Kundschaft, die ihre Waren mit falschen Münzen bezahlt. Es ist ein Schauspiel. Schön und leer wie alles im Feenreich.
Und … ebenso gefährlich.
Denn die Träume des Feenkönigs bringen Nacht für Nacht neue Kreaturen hervor. Neue Gefahren. Ein Felsspalt, der plötzlich die Erde aufbricht und spitze Felsen gebiert, die zuschnappen wie ein Gebiss. Geschöpfe aus Albträumen, die über das Land wandern und nach Blut dürsten - oder nach Seelen. So furchterregend und mächtig, dass sie selbst einer hohen Fee gefährlich werden können. Das Mondreich ist einem ständigen Wandel unterworfen. Ein endloser Irrgarten, in dem man sich nicht orientieren kann, weil er sich stetig verändert. In der einen Sekunde steht ein Reisender in einem Wald, in der nächsten ertrinkt er in einem riesigem See, der alle Bäume verschlingt. Nur eines ist gewiss - wer sich im Mondreich verirrt, findet niemals ohne Hilfe den Weg hinaus.