Gemea, Weinmond 1604
Ich erinnere mich an diese Nacht, als wäre es gestern gewesen, obgleich seither eine unendlich lange Zeit verstrichen ist. Es war im Weinmond, als sich die Blätter der Bäume golden verfärbt hatten und die Nächte kühl genug waren, dass selbst mein dicker Umhang den Wind nicht von mir abhalten konnte. Das Jahr 1604 neigte sich dem Ende zu. Ein Jahr wie viele andere in Gemea, gezeichnet von dem ewigen Konflikt zwischen Schattenwandlern und Hexen. Von Ränken, Intrigen und Machtkämpfen.
Doch in dieser Nacht, wie in allen Vollmondnächten, die seit Seraphias Fluch ins Land gezogen waren, kamen die herrschenden Familien der Stadt friedlich zusammen - so friedlich, wie es den verfeindeten Kindern von Sonne und Mond möglich ist.
Der Wind wühlte das blutige Wasser des Sephris unter den Brücken auf, über die die Kutschen der Fürstenfamilien zur Kathedrale des Lichts fuhren. Wie zu jeder Vollmondzeremonie, waren die Straßen von Menschen gesäumt, die einen Blick auf die herrschenden Familien Gemeas erhaschen wollten. Auf Candia Bredanis, die mächtige Fürstin des Sonnenhofes, und Magnas Angelis, den gefürchteten Nachtfürsten. Doch in dieser Nacht sollten es nicht die Fürsten sein, die aller Augen auf sich zogen. Das Schicksal hatte eine junge Hexe und einen jungen Schattenwandler ausgewählt, um zu den Hauptdarstellern dieses grausamen Theaterstückes zu werden: Silvea Adamares und Iago Fabrian.
Oh, niemand ahnte, was geschehen würde, als Silvea und Iago die Kutschen ihrer Familien verließen. Es war Silveas erste Vollmondzeremonie und Furcht und Neugier wetteiferten auf den zarten, porzellanartigen Zügen des jungen Mädchens, als es die hell erleuchtete Kathedrale mit großen Augen musterte.
Iago dagegen hatte bereits seinen zwanzigsten Sommer erlebt. Ein junger Mann, auf dem die Hoffnungen seiner Familie ruhten, vielleicht eines Tages zu einem Herausforderer der Angelis werden zu können. Denn Iago war mächtig. Stark. Und so vollkommen frei von Ambition, dass sein Vater seiner Mutter stets vorwarf, dem Jungen zu viele romantische Flausen in den Kopf gesetzt zu haben.
Es mag Zufall gewesen sein, dass der Glockenturm die elfte Stunde schlug, als sie unbemerkt voneinander durch das Portal der Kathedrale traten und ihre gläserne Kuppel passierten. Doch ich glaube, dass es ein Vorbote des Schicksals war. Die Stimme der Glocken, die ankündigte, was geschehen würde, sobald sie einander zum ersten Mal gegenüberstanden.
Der Garten der Kathedrale war von unzähligen Hexenlichtern erleuchtet. Hellen Kugeln, die in den Bäumen saßen und den Garten in ein sanftes Licht tauchte, das die Furcht der Hexen vor dem Mond bekämpfen sollte. Doch alle Aufmerksamkeit ruhte auf dem riesigen Auge des Vollmondes hinter dem steinernen Altar, an dem der Gabentausch vollzogen wurde. Es blickte wachsam auf den Rücken der Lichtstimme, die von seinem Silberlicht gerahmt wurde, als trüge sie eine Gloriole. Auf den Kreis der versammelten Priesterinnen in ihren weißen Gewändern, deren Gesang sich süß mit dem Rauschen der Bäume vermischte. Und auf die Hexen und Schattenwandler, die in den Garten strömten, um ihre Plätze einzunehmen.
Es war, als wäre es Seraphia selbst, die über die Zeremonie wachte. Denn so nennt man den Vollmond in Gemea seit jener Nacht, in der sich der machtvolle Fluch über der Stadt entfaltet hatte: Seraphias Auge. Seraphias Auge, das wachte. Seraphias Auge, dessen Blick … auf Silvea und Iago gefallen war.
Die zwölfte Stunde.
Oh, eine Ewigkeit schien ins Land zu ziehen, bis sie anbrach. Die Familien waren unruhig in dieser Nacht. Es mochte am eisigen Kuss des Herbstwindes liegen - oder daran, dass sich eine tiefe Ahnung unter ihnen ausbreitete, je mehr Zeit ins Land zog. Eine Ahnung, die niemand greifen, niemand verstehen konnte. Doch sie prickelte in der Luft und füllte jeden Atemzug mit einem nervösen Kribbeln.
Nur kurz zuvor hatten Magnas und Candia die Kathedrale betreten, gefolgt von ihren Familien wie von einer Schleppe aus Licht und Schatten. Und so erschienen sie. Der schwarzhaarige Fürst der Nacht, der mit der Dunkelheit verschmolz, so wie seine Familie, und die Sonnenfürstin mit dem flammend roten Haar, die selbst in der Nacht funkelte wie ein Strahl aus reinem Licht, als wollte sie die Schwärze verspotten, die sie doch so sehr fürchtete. So sehr wie alle Hexen.
Der Wind frischte auf, als die zwölfte Stunde schlug. Als die Schattenwandler von der Macht von Seraphias Fluch in die Knie gezwungen wurden und Mondtränen aus ihren Augen quollen. Ihr schmerzerfülltes Aufheulen vereinte sich mit dem Wehklagen des Windes, als das wertvolle Nass über ihre Wangen rann und in ihren Händen zu diamantenen Tropfen erstarrte.
Der Gesang des Windes begleitete auch den Moment, als das Sonnenblut von Candia Bredanis in die goldene Opferschale tropfte, die in den Händen der Stimme des Lichts ruhte. Als die Hohepriesterin es in das goldene Fläschchen füllte und es Magnas überreichte, während Candia die silberne Schatulle mit den Mondtränen entgegennahm. Schutz vor dem Mondlicht, das Wahnsinn über die Hexen brachte. Schutz vor dem Sonnenlicht, das die Wandler verbrannte. Die größten Schätze Gemeas, die Hexen und Schattenwandler zwangen, den Frieden zu wahren, ob sie es wünschten oder nicht. Denn ohne den Feind waren sie zum Untergang verdammt.
Die anderen Familien folgten den Fürsten ihrem Rang gemäß. Die Lichtstimme sang und betete, während sie den Gabentausch vollzogen. Jede Familie mit ihrem Gegenstück.
Bis … die Fabrian und die Adamares vor den Altar traten.
Ein Wispern ging über den Kathedralengarten.
Die Glocke des Glockenturmes schlug zweimal.
Dann stand die Welt still.
Es war der Augenblick, als Silvea aufsah. Als sich das nervöse Prickeln in ihrem Magen, das sie seit ihrem Eintritt in die Kathedrale verspürt hatte, stärker wurde. Als ihre Augen sich mit Iagos kreuzten.
Und Silber aufflammte.
Silvea schrie auf und der Laut wiederholte sich unzählige Male aus anderen Kehlen. Überraschtes Keuchen, ungläubige Ausrufe. Staunen.
Iago taumelte zurück, die Augen weit, die Faust auf die Brust gepresst, als hätte er einen Stich ins Herz erhalten, während Silvea hilflos bebend die linke Hand hob. Auf ihren Puls starrte, von dem ein silbernes Band ausging, das sein Gegenstück in Iago fand.
»Was im Namen der Lichtmutter …«
Silveas Mutter trat vor ihre Tochter und packte grob ihr Handgelenk. Ein Wimmern kam über Silveas Lippen und Iagos Kopf zuckte empor. Seine Augen verengten sich und silbriger Rauch wirbelte über seinen Rücken, als sich seine Schwingen bildeten. Die riesigen rauchfarbenen Schwingen, die beinahe kein Schattenwandler besaß, der nicht zu der Linie der Angelis gehörte.
Ein Sprung.
Ein mächtiger Schlag seiner Schwingen.
Seine Arme wanden sich um Silvea und rissen sie mit sich in die Wolken. Die junge Hexe schrie auf und klammerte sich in Todesangst an den Schattenwandler. Ihre Silhouetten noch für einen Herzschlag als dunkle Schatten vor dem Auge des Vollmonds zu sehen, dann waren sie verschwunden.
Ein Silberband. Ein wahrhaftiges Silberband.
Das Raunen ging über Hexen und Schattenwandler hinweg.
Niemandem blieb verborgen, was es bedeutete. Ein mögliches Ende von Seraphias Fluch. Wenn ... ja, wenn es Silvea und Iago gelang, zu überleben.
Was noch kein Träger des Silberbandes vor ihnen vermocht hatte. Denn jede Hexe war noch vor dem Tag ihrer Hochzeit in die Fluten des Sephris gestürzt.
»Er hat sie entführt! Der verfluchte Schattenwandler hat sie entführt!«
"Er wird dafür bezahlen!"
Der Ruf ging über den Kathedralengarten hinweg und und die Luft füllte sich mit Anspannung. Stahl zischte, Schatten wirbelten wie Tinte in einem Wasserglas und ließen Klauen aufblitzen.
»Achtet auf Eure Worte.« Eine gefährlich gezischte Antwort.
Die Adamares und die Fabrian bewegten sich aufeinander zu. Eine Welle aus Gefahr, die drohte, aufeinanderzuprallen. Es wurde laut im Kathedralengarten, als Hexen und Schattenwandler sich gegenüberstanden.
Und die Androhung von Blutvergießen erfüllte die Luft zwischen ihnen.