Wildhexen

Am Ursprung der Magie

Wind streifte über ihren Nacken und das Wispern klang lauter. Rhošyn sah zurück zu der Schale. Es gab kein Holz darin. Nichts, das ein Feuer nähren könnte. Keine Reste von Asche. Und doch …

»Entzünde die Flamme, Tochter des Feuers …«

Diesmal vernahm sie die Worte im Wind und Rhošyn fuhr zusammen. Ethaen rührte sich, stockte.

»Entzünde die Flamme …«

Lockend. Rhošyns hob die Hand. Ihre Finger schwebten über der Schale und ihr Herz schlug übergangslos in einem schnelleren Takt. Wärme bildete sich in ihren Adern. Die Hitze ihrer Magie, die danach drängte, freigelassen zu werden. So ungestüm, als wollte sie einen Feuersturm zu entfesseln. Furcht wallte in Rhošyn auf. Instinktiv versuchte sie, die Hitze zurückzuhalten. Das Feuer zu bezähmen, das in ihr aufloderte, als hätte der Sturmwind es angefacht.

»Entzünde sie …«

»Nein … Ich kann nicht …«

Nutzloser Protest, der im Aufwallen ihrer Magie verklang. Feuer zuckte von ihrer Hand und eine Flamme loderte inmitten der Schale auf. Ein tanzendes, schlankes Licht, das einen Widerschein auf dem Wasser fand.



Die Magie einer Wildhexe ist urwüchsig und stark. Sie bedient sich keiner Formeln, um die Welt in die gewünschte Form zu zwingen. Stattdessen nährt sie sich aus der Quelle, die jede Hexe tief in sich trägt. Es sind die Spuren eines Elements, die in ihr verblieben sind und die es ihr erlauben, dieses mit der Kraft ihres Willens zu beschwören.


Anders als die Hexen Gemeas greifen die Wildhexen nicht auf mehrere Elemente der Magie gleichzeitig zu. Ihre Macht ist auf das eine beschränkt, mit dem sie geboren wurden. Waren Vater und Mutter beide von einem Element berührt, so gibt einer von ihnen das dominantere an das Kind weiter. Welches Element dieses sein mag, hängt von der Macht der Hexe ab, die es in sich trägt. In einer Hexe mag es schwächer sein, in einer anderen so stark, dass es Zeichen hinterlässt. Die Farbe ihres Haares von einem feurigen Rot, das Ozeanblau ihrer Augen - das saftige Grün von frischem Laub oder so helles Haar, das es beinahe weiß scheint und von jedem Windhauch in Bewegung versetzt wird.


Die Magie im Blut einer Wildhexe wird nicht dünner, wenn sie sich mit einem Menschen vereint, doch sie ist wankelmütig. So können Hexen und Menschen Hexenkinder hervor bringen - oder Kinder ohne jedes Talent für Magie. Es gibt auch Nachkommen, die nur leicht von der Magie berührt sind. Sie tragen ein schlummerndes magisches Talent in sich, das womöglich niemals erwacht, das aber dennoch in ihnen spürbar ist. Oft sind sie sich dessen kaum bewusst und natürlich erhalten sie keine Ausbildung darin. Allerdings kann eine solche Gabe in einem späteren Nachkommen zur vollen Stärke erwachen und wieder eine wahrhaftige Hexe hervorbringen - die Ströme der Magie entscheiden selbst, wann und in welchem Gefäß sie fließen möchten.


Es ist gefährlich, das magische Erbe einer Wildhexe ohne Ausbildung in sich zu tragen. Wird eine Hexe nicht gelehrt, ihre Magie zu kontrollieren, kann diese bei starken Gefühlen aus ihr herausbrechen und einen furchtbaren Schaden anrichten. So nehmen sich die meisten Hexenmütter oder -väter ihrer Kinder an und lehren diese, ihre Willenskraft zu benutzen und zu fokussieren, um die Magie in ihren Adern zu bezähmen. Wird eine Hexe geboren, in deren Familie das magische Erbe bereits so fern ist, dass niemand mehr weiß, wie es zu lenken ist oder es ganz und gar vergessen hat werden die Hexen meist zu einer älteren Hexe in die Lehre gegeben. Falls das magische Erbe nicht verneint und als Makel angesehen wird.


Der größte Teil der Wildhexen ist heute in Avrielle ansässig. Nach der Flucht vor den Grauroben Gemeas, die das Erbe der Wildhexen als widernatürlich und gefährlich ansehen und danach trachten, es aus der Welt zu tilgen, war es König Lowllyn von Avrielle, der dieser Jagd ein Ende gesetzt hat. Seither leben die Hexen unter dem Schutz der Falken von Avrielle und es ist kein Gerücht, dass das Land durch ihre Einwirkung blüht und fruchtbar geworden ist. So wenig wie die Tatsache, dass Grauroben in Avrielle nicht willkommen sind und es niemals sein werden. Es ist ihnen untersagt, die Grenzen des Landes zu überschreiten - und dasselbe gilt für ihre Jäger. Versuchen sie es doch, haben sie in Avrielle keine Gnade zu erwarten.


Für eine lange Zeit hat der Kreis der Sieben über die Hexen Avrielles gewacht. Ein Zirkel der mächtigsten Hexen der Elemente, von denen eine stets in das Königshaus eingeheiratet hat, um die Verbindung zwischen den Hexen und den Königen zu besiegeln. Vor einer Weile wurde dieser Kreis gebrochen. Jetzt sorgen die Hexen jeder Gemeinde selbst dafür, dass es in ihrer Mitte niemanden gibt, der ihre Gesetze übertritt und seine Magie nutzt, um Schaden anzurichten. Wildhexen leben im Einklang mit der Natur. Sie dulden nichts, das in ihren Lauf eingreift oder ihn schädigt und wer auf den dunklen Pfaden wandelt, wird auch hier verstoßen und aus dem Lande verbannt.


Wildhexen berühren die Natur auf ihre eigene Weise. Lebt das Licht in ihnen, sind sie Heiler, die ein sachtes Glühen von ihren Händen fließen lassen können und keine Nacht fürchten müssen. Sie stärken die Strahlen der Sonne und treiben die Dunkelheit zurück. Sind sie aus Erde geboren, wachsen die Pflanzen in ihrer Obhut kräftiger und schneller. Erde und Stein bewegen sich nach ihrem Willen, sie beben und tun sich auf, wenn sie es verlangen. Kinder des Feuers können Flammen beschwören und werden niemals in der Kälte leiden, denn das Feuer wärmt sie aus ihrem Inneren. Hexen des Windes rufen die Stürme, sie vertreiben Wolken und lassen Wasser gefrieren. Kinder des Wasser schließlich, beherrschen Quellen und Flüsse. Sie lassen das Wasser ansteigen und sinken, rufen Ebbe und Flut und beherrschen den Regen. Wasser fließt von ihren Händen und nährt die Erde, wenn sie an Trockenheit leidet. Die Hexen des Schattens wiederum beherrschen die Dunkelheit. Sie dämpfen das Sonnenlicht, wenn es die Erde verbrennen will, verstärken das Licht des Mondes und der Sterne in der Nacht und verschmelzen mit ihr, als wären sie eins mit den Schatten.


Finden sich die Hexen der Elemente zu einem Zirkel zusammen, vermag dieser, die Natur zu leiten und Schaden von ihr fernzuhalten. Ihre vereinten Kräfte sind wie ein Netz, das die Natur heilt und fördert. Ein Bollwerk gegen Dürren und Not, gegen Hunger und Leid, das gemeinsam zum Besten ihrer Welt und ihre Volkes handelt. Dies ist der Zweck, den die Wildhexen in ihrem Dasein sehen. Sie leben, um das Leben zu schützen, nicht, um die Welt nach ihrem Willen zu verändern und sie zu verformen. Tatsächlich verachten sie jeglichen Versuch, sich die Natur Untertan zu machen und in ihren Lauf einzugreifen, um selbst an Macht zu gewinnen.


Es ist den Wildhexen nicht völlig unmöglich, mit der geschulten Hexenmagie umzugehen und auch sie beherrschen die Alte Sprache. Allerdings sind ihre Möglichkeiten begrenzter. Sie beschränken sich auf ihr Element und gehen niemals darüber hinaus.

Das Gesetz des Fluchs

Hexenflüche sind gefürchtet. Dies gilt ebenso für die Flüche der Hexen Gemeas wie auch für die der Hexen Avrielles. Ein Fluch ist ein mächtiger Zauber, den jede Hexe in sich trägt. Er erfordert große Opfer von der Hexe - und manche kosten gar ihr Leben. Ein Fluch, der vom Leben einer Hexe genährt wird, ist kaum zu brechen. Doch jeder Fluch besitzt einen Ausweg. Manche erfordern auch von ihrem Träger ein Opfer. Andere können auf verschlungenen Wegen gebannt werden. Allerdings unterliegt jeder Fluch einem Gesetz. Und dieses duldet niemals Einmischung von außen. Ein falsches Wort, das Drängen einer wissenden Seele in eine falsche Richtung kann alles ruinieren und jede Hoffnung auf ein Ende des Fluchs zunichtemachen.


Nicht jede Hexe hinterlässt einen Hinweis darauf, wie ihr Fluch zu brechen ist. Manchmal weiß sie selbst nicht, wie genau der Fluch sich manifestiert und was es braucht, um ihn schwinden zu lassen. Und niemals kann er durch einen anderen Zauber aufgehoben werden. Es gibt keinen Bannbrecher, keinen Fluchbrecher, der einen Zauber ausspricht und einen Fluch ungeschehen macht - auch wenn manche Scharlatane es den Leichtgläubigen versprechen. Denn jeder Fluch besitzt sein eigenes Gesetz und dieses richtet sich niemals nach dem Willen eines Menschen.