Tierblut

Wandler

Sofea ließ das schlichte Kleid von ihren Schultern rutschen und glitt in ihre Katzenform. Es war ein unbewusster Vorgang, so natürlich wie ein Zwinkern oder ein Atemzug. Fell spross an ihrem Körper, ihre Gliedmaßen verkürzten sich und wurden biegsamer. Krallen ersetzten ihre Nägel und die Welt veränderte sich vor ihren Augen. Sie wurde größer, blasser … weicher. Als würde alle Härte daraus schwinden. Sofea hatte es seit ihrer Kindheit genossen, in die Haut der Katze zu schlüpfen, die in ihrer Seele verwurzelt war. Seitdem ihre Mutter ihr gezeigt hatte, was sie war.

Einst während des Krieges aus der Dämonenwelt geflohen, erinnern sich Tierwandler auf Atharys heute nicht mehr ihres wahren Ursprungs. Der Segen der Erdmutter hat sie mit dem Menschenreich verschmelzen lassen, sodass sie sich weit von den Dämonen der Erdebenen entfernt haben. Das Tierblut in ihren Adern ist dünn geworden, und vermischen sie sich zu oft mit Menschen, schwindet es eines Tages ganz.


So werden die wahren Tierblute auf Atharys heute nur noch Eltern geboren, die beide das Erbe der Kinder Gëas in sich tragen. Entstammen sie der Verbindung eines Tierblutes mit einem gewöhnlichen Sterblichen, wird das Tierblut so schwach, dass sie sich nicht mehr in ihr Seelentier verwandeln können. Nur ein Teil von dessen Fähigkeiten bleibt erhalten. Ein überlegenes Gehör. Eine andere Art der Sicht. Geschmeidigere Gelenke. Aber die Tierform ist verloren.


Wahrhaftige Tierblute jedoch, können in ihre Tierform schlüpfen. Ihr Seelentier offenbart sich ihnen bereits als Kind bei einem Ritual, das in der Neumondnacht stattfindet und bei dem sie ihr wahres Wesen im Wasser eines heiligen Teichs erkennen. Schließlich wandeln sie - meist unter der Anleitung ihrer Eltern - zum ersten Mal ihre Form. Dies ist oftmals mit Schmerzen verbunden. Das fremde Gehör, der ungewohnte Körper, die neuartige Sicht - es ist ein Vorgang, an den Tierblutkinder behutsam herangeführt werden, um seine Auswirkungen zu mildern.


Zudem können sich Tierblute in eine Halbgestalt verwandeln und nur Teile ihrer Tiergestalt beschwören - dies tun sie allerdings nur unter größter Vorsicht und wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Eine Halbgestalt, mit Klauen bewehrt und von Fell bewachsen, wird von gewöhnlichen Menschen nur zu schnell für eine gefährliche Bestie gehalten, die man jagen und töten muss.


In welche Tierform Tierblute sich wandeln können, ist von den Seelentieren ihrer Eltern abhängig. Ist diese unterschiedlich, so wird das Kind die dominantere Form annehmen. Diese gehört für gewöhnlich der mächtigeren Blutlinie an, auch wenn das Wissen darum den Tierbluten auf Atharys nicht mehr geläufig ist.


Tierblute fühlen sich noch immer der Erdmutter verbunden und geben Geschichten und Legenden ihrer Art von Generation zu Generation weiter, die sich in ihren eigenen Ohren wie Märchen anhören, die jedoch stets einen wahren Kern enthalten. In diesen bleibt lebendig, was sie längst vergessen haben.


Die Tierblute von Atharys besitzen, anders als die langlebigen Tierblute der Dämonenwelt Ethrea, der sie entstammen, die gewöhnliche Lebensspanne eines Menschen. Ihre Körper haben sich an die Tierwelt ihrer neuen Umgebung angepasst und sie damit verschmelzen lassen. So nehmen sie die Gestalten von Katzen, Hunden, Mäusen oder Vögeln an, wenn sie in städtischen Gebieten leben, vielleicht die von Waldtieren, wenn sie nahe des Waldes geboren sind.


Allerdings ist Vorsicht geboten, wenn sie in ihre Tierhaut wechseln - die Magie auf Atharys ist schwach. Und ein Wandel wird stets nackt vollzogen. Die meisten Tierblute, die ihre Gestalt wechseln, greifen also auf ein Depot von Kleidung zurück, die sie vorher an einer greifbaren Stelle zurücklassen, um nicht unbekleidet ihrer Umwelt gegenüber zu treten.