Luënndyl

Das Herz des Mondes

Der Nachthimmel erschien in den Spiegeln. Eine Stadt aus Elfenbein, durchzogen von der silbernen Ader eines Flusses. Klippen am Meer, auf denen ein einsamer Leuchtturm stand. Die Bilder wechselten, doch ihre silberdurchwirkte Schönheit blieb immer gleich. Die eintönige Farblosigkeit des Feenreiches. Das Reich der ewigen Nacht. Ebenso schön und gefährlich wie sein Herr.

Luënndyl, das Herz des Mondes. Ein Zauberreich aus Elfenbein und Silber, das reicht, so weit das Auge sehen kann. Die wundersame Stadt der Feen, die der Feenkönig einst für seine Tochter geschaffen hat, um ihre Sehnsucht nach dem Reich der Menschen zu stillen. Doch so sehr er sich auch bemüht hat - Luënndyl konnte niemals mehr sein als eine Imitation. Erschaffen aus reiner Feenmagie, die ein Kunstwerk geboren hat, doch niemals ein einziges wahrhaftiges Gefühl. Und selbst der Feenkönig hat niemals vermocht, die Sonne in seinem Reich zu beschwören, um seine Tochter Luënn zu erfreuen.


Heute ist Luënn nur noch eine längst verblichene Erinnerung. Aber ihr Gesicht kann an vielen Stellen der Stadt entdeckt werden. So wie die große Statue inmitten des Parks, umgeben von weißen Rosen, die niemals verwelken. Zierliche Singvögel singen dort zu jeder Stunde ihr Lied im Licht des Mondes, zu melodisch und zu süß, zu perfekt, um wirklich zu sein. Auch der Brunnen auf dem Marktplatz zeigt ihr Antlitz, sehnsüchtig hinaus auf das Meer gerichtet, als wollte sie mit seinen Wellen verschmelzen, während Wasser aus ihren Händen rinnt. Niemals wirkt sie wahrhaft glücklich. Wo immer Luënn zu sehen ist, zeichnet Melancholie ihre Züge. Als wäre es ihrem Vater nie gelungen, den Ausdruck von Glück auf ihrem Gesicht einzufangen, ganz gleich, wie sehr er es versucht hat.


Manchmal erscheinen neue Abbilder von Luënn in der Stadt, immer dann, wenn der Feenkönig von seiner Tochter träumt und sich ihrer erinnert. Und mit ihrem Erscheinen wandelt sich auch Luënndyl. Denn die Stadt ist ewig im Wandel. Gassen entstehen aus dem Nichts, gesäumt von leeren Häusern und Villen, die von den Feen mit neuem Leben gefüllt werden. Brücken schlagen gläserne Bögen über dem glitzernden Wasser des Astryn, in dem sich der Sternenhimmel spiegelt. Läden wachsen aus dem Boden und bieten ihre Waren feil, während andere verschwinden, als hätte es sie niemals gegeben. Weiße Schiffe schwanken in einem Augenblick im Hafen und segeln hinaus, um sich auf dem Wasser in einen Schwan zu verwandeln, der sich in den Himmel erhebt.


Die Geschäfte verkaufen nicht nur gewöhnliche Gegenstände, sondern auch Magie. Muscheln, die mit der Stimme einer Sirene singen, Bücher, die sich von allein vorlesen, Kutschen, die ohne Pferde fahren, sogar Instrumente, die spielen, ohne dass ein Musiker sich ihrer bedient. Es gibt nichts, das man im Feenreich nicht bekommen kann, solange Magie vermag, es zu erschaffen.


Luënndyl ist ein Wunder, das sich an jedem Tag neu erfindet. Teile der Stadt sterben, um wieder neu geboren zu werden. Sie ist wie ein Jahrmarkt, der niemals stillsteht und der immer neue Kuriositäten gebiert. Auf den ersten Blick märchenhaft schön, auf den zweiten von einer abgrundtiefen Hässlichkeit. Die Fassade der Stadt mag leuchtend sein, in glühendes Silber getaucht, als wäre sie aus dem Licht des Mondes geboren. Doch wenn man daran kratzt, kommt ihre Falschheit zum Vorschein und der Schrecken, der darunter lauert.


Eine erstaunlich große Anzahl Menschen bevölkert Luënndyl. Sie betreiben Geschäfte und verkaufen die Waren des Feenreiches in ihren Läden. Erlesene Gegenstände von makelloser Schönheit ... solange der Blick nicht tiefer geht und die Wahrheit darunter entdeckt. So sind bezaubernde Backwaren und Torten in den Bäckereien ausgestellt. Doch wer davon kostet, schmeckt die fauligen Früchte des Feenreichs.

Musiker spielen in Pavillons und auf öffentlichen Plätzen zur Erbauung der Feen. Scheinbar entrückt in ihrer Kunst - aber in Wirklichkeit sind ihre Augen leer. Maler betreiben Werkstätten und werden von Mäzenen besucht. Doch wer sie genauer ansieht, erkennt, dass sie allmählich verwittern. Dass ihre Haut zu bleich ist, ihre Körper so mager sind, dass die Knochen zum Vorschein kommen.

Sie alle sind verzaubert. Von einer Fee besessen, die sich an ihrer Kunst erfreut und an ihren Gefühlen labt. Andere Feen flanieren mit ihren sterblichen Spielzeugen durch die Straßen, ihre Kehlen von juwelenbesetzten Halsbändern umschlossen, an denen Leinen hängen, die fest in den Händen ihrer Herrn liegen, als wären sie Haustiere.


Der Hof des Feenkönigs residiert in Luënndyl, in der Nähe des weißen Palastes mit den unzähligen Türmen, der von weißen Rosen überwuchert ist. Jeder hochgeborene Feenadelige besitzt einen Palast oder eine Villa am Ufer des Astryn und wenn es ein gesellschaftliches Leben im Reich der Feen gibt, findet es hier statt. Die Feen veranstalten eine Vielzahl von Bällen, Gesellschaften und Festlichkeiten. Geschmückte Boote passieren den Astryn zu jeder Zeit und prächtige Kutschen, von grazilen Rössern gezogen, sind in den Straßen unterwegs. Alles scheint prachtvoll und leuchtend. Wie ein schöner Traum, der niemals endet und der niemals wirklich sein könnte.


Übertritt eine Fee die Gesetze des Feenkönigs, wird hier über sie gerichtet. Und tatsächlich finden die Strafen öffentlich statt und ziehen nicht weniger Zuschauer an als eine Hinrichtung im Reich der Sonne. Insbesondere die niederen Feen wohnen ihnen gern bei und genießen es, jene bestraft zu sehen, die normalerweise über sie bestimmen. Lauter Jubel bricht aus, wenn die Strafen besonders grausam sind und nicht selten beteiligt sich das Volk von Luënndyl daran.


Das Wetter in Luënndyl ist launenhaft. Oftmals passt es sich der Stimmung des Feenkönigs an und so stürmt es, wenn er zornig ist. Oder es regnet in Strömen, wenn er Melancholie empfindet. Manchmal ist Luënndyl am Morgen eines Tages unter einer dichten Schneeschicht begraben. Dann gefriert der Astryn und Eiszapfen hängen von den Dächern. Danach schmilzt der Schnee und lässt den Fluss über die Ufer treten, bis das Wasser die Gassen in eine glitzernde Flusslandschaft verwandelt.


In der ewigen Nacht vergeht die Zeit nicht wie im Reich der Sonne. Und so gibt es Uhren an jedem Flecken des Feenreichs, die das Vergehen der Zeit im Reich der Menschen anzeigen. In jeder Nacht, pünktlich zur Stunde der Mitternacht, erlöschen der Mond und die Sterne für einen Herzschlag. Dann sind die Schleier zwischen der Welt der Menschen und der Feen so dünn, dass die Feen sie durchschreiten und den Rufen jener folgen, die nach ihrer Gesellschaft verlangen.

Dann wird es still in Luënndyl. Das Leben erlischt und die Stadt scheint zu gefrieren. Als würde sie in einen tiefen Schlaf fallen, der erst endet, wenn die Sonne über dem Menschenreich erwacht und die Feen zurückströmen lässt wie Flüchtlinge, die vor ihrem Schein fliehen müssen.