Feenblut

Geistrufer

Silberlicht bildete sich auf ihren Fingern und floss in die bronzene Frauenskulptur, die sich an die Säule schmiegte. Erschrocken zog Maja die Hand zurück, doch es war zu spät. Die geschlossenen Lider der Frauengestalt blinzelten und sie streckte sich, als wäre sie aus einem tiefen Schlaf erwacht. Maja taumelte von ihr weg, als die Skulptur die Säule losließ und verzückt dem Gesang lauschte, der hinter dem dicken Samt hervordrang. »Er singt so wundervoll. Es ist lange her, seitdem der Opernsaal von solch meisterhaftem Gesang erfüllt gewesen ist. Ich sehne jeden Tag die Nächte herbei, in denen er endlich wiederkommt.« Ihre Beine bewegten sich unbeholfen auf den Vorhang zu und sie stolperte wie ein Kind bei seinen ersten Gehversuchen. Sie kicherte hoch, als sie auf ihr wallendes Gewand trat und beinahe stürzte.

Die Zusammenkunft von Feen und Menschen endet nicht immer mit einem Wunsch oder dem Erfüllen eines Paktes. Feen vereinigen sich häufig mit Sterblichen und hinterlassen ihr Erbe in ihren Nachkommen. Und so werden Feenblute geboren, die nicht vom Fluch der Lichtherrin betroffen sind, ebenso fühlend wie jeder ander Mensch und nicht empfindlich gegen das Licht der Sonne.


Man merkt einem Feenblut nicht an, dass es kein gewöhnlicher Mensch ist. Vielleicht wirkt es attraktiver und anziehender. Möglicherweise besitzt sein Haar einen stärkeren Glanz und die Haut einen besonderen Schein. Aber diese Merkmale fallen nicht so stark ins Gewicht, dass sie Aufsehen erregen. Doch sie werden von einem besonderen Duft umgeben - Rosen, Lilien, der Frische des Waldes. Ein Feenblut duftet stets, als hätte es ein teures Parfum benutzt, ohne es jemals aufgetragen zu haben.


Weitaus auffälliger ist ihre Magie, die sich häufig manifestiert, ohne dass sie es möchten. Ein zu starkes Gefühl, ein instinktives Aufflammen der silbernen Mondlichtflamme in ihrem Inneren, und ein vorher lebloses Objekt beginnt zu leben. Den meisten Feenbluten fällt es schwer, diese Gabe zu kontrollieren - und noch schwerer, sie tatsächlich zu verbergen.


Geistrufen, so nennt man ihre Magie, wenngleich die wenigsten von ihnen es jemals erfahren. Denn Feenmagie ist wie ein Brandzeichen, das Misstrauen hervorruft. Niemand trägt sie offen zur Schau und kaum jemand findet jene, die ebenfalls davon betroffen sind, um sich darüber auszutauschen.


Geistrufer binden Seelenreste, die noch an einem Gegenstand haften und senden diese in seine Hülle. So könnte es leicht geschehen, dass eine harmlos aussehende Porzellantasse mit der Persönlichkeit der klatschsüchtigen Matrone zum Leben erwacht, die zuvor aus ihr getrunken hat.


Die Magie eines Geistrufers ist permanent. Sie erschafft belebte Gegenstände, die sich an Dinge erinnern, die in ihrer Gegenwart geschehen sind, allerdings nicht auf die tatsächliche Erinnerung der Seele zurückgreifen können, aus deren Überbleibseln sie zum Leben erwacht sind. Sie sind neugeboren und doch so alt, wie sie als Gegenstand gewesen sind. Erst wenn der Gegenstand zerstört wird, entweichen diese Seelenreste und er kehrt in seinen unbelebten Zustand zurück.


Geistrufer sehen die Welt auf eine andere Weise als gewöhnliche Sterbliche. Sie erkennen die Magie der Feen darin, sehen den Grund für Dinge, die anderen verborgen bleiben. Den Duft von verdorrten Blüten in der Luft, der allen Rätsel aufgibt, während sie selbst die vertrockneten Blumenranken sehen können, die von Feen hinterlassen worden sind. Auch Feenwesen erkennen sie mühelos. Sie unterscheiden sie auf den ersten Blick von einem Menschen - und sie sind anfälliger für ihren Zauber, als andere Menschen es sein mögen. Feenblut sehnt sich danach, ins Reich des Mondes zu reisen - und nicht wenige bezahlen mit dem Feenwahn dafür. Auch Feen suchen Feenblute häufiger heim und ziehen sie gern mit sich hinter die Spiegel. Das Erbe der Feen ist ein zweischneidiges Schwert. Es ist niemals ein Segen und allzu oft ein Fluch.