Sorieska

Zwischen Tradition und Fortschritt

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als der weitläufige Marktplatz von Sorieska in Sicht kam. Die Händler waren bereits damit beschäftigt, die Stände für den Tag herzurichten, und ein Meer aus Farben und Gerüchen entstand auf dem aufwändig gepflasterten Platz. Die frische Brise, die vom Fluss herüberwehte, strich über ihre Haut und kühlte die Schweißtropfen, die sich darauf gebildet hatten. In der Ferne konnte Maja die Schiffe sehen, die im Hafen lagen, um Waren zu liefern. Die emsige Betriebsamkeit, mit der Kisten und Säcke verladen wurden, erinnerte sie an einen wimmelnden Ameisenhaufen. Von der ruhigen Gemächlichkeit, die in der Nähe der Villen herrschte, war hier nichts zu spüren. Lachen drang an ihr Ohr, Rufe und Flüche, Wortfetzen, die sie nicht zu verstehen vermochte. Das Leben pulsierte rund um den Marktplatz und Maja sog es in sich auf wie eine Ertrinkende, in deren Lunge wieder Luft strömte.


Sorieska, einst die Hauptstadt eines blühenden Reiches, das längst zerfallen ist. Und trotzdem hat sie niemals ihre Bedeutung verloren. Die Hafenstadt an den Ufern des Orijș ist das blühende Handelszentrum von Serijsa. Dies merkt man insbesondere dann, wenn man den vor Leben vibrierenden Hafen besucht. Unzählige Schiffe liegen dort vor Anker und werden von ihren Mannschaften beladen, um die Güter aus Sorieska in die Welt zu tragen. Andere werden entladen, um die unzähligen Läden und Marktstände zu füllen, die das Herz der Stadt bilden.


Die Unterstadt von Sorieska ist wie ein ständig summender Bienenstock. Rund um den weitläufigen, aufwändig gepflasterten Marktplatz mit dem Rabenbrunnen erstreckt sich ein Rund aus Geschäften, deren polierte Metallschilder in der Sonne glänzen und auf die Art ihrer Waren hinweisen. Kleinere und größere Gassen gehen davon ab und beherbergen Tavernen, Gasthäuser und Herbergen, die müden Besuchern des Marktes Erholung versprechen.


Es gibt beinahe nichts, was man hier nicht zu finden vermag. Wer nach Sorieska kommt, geht niemals mit leeren Händen - und leichteren Taschen.


Auch das Rathaus befindet sich am Marktplatz. Das große Gebäude mit dem Rabenwappen der Könige von Serijsa, leicht abgewandelt, um das Wahrzeichen der Stadt abzubilden - den gekrönten Raben, der auf einer Münze sitzt.


Gewiss ist es ironisch. Viele sagen, dass es inzwischen das wahre Wappen von Serijsa darstellt, denn die Macht liegt seit Langem in den Händen der Händlergilden. Dies zeigt sich bereits in den stolzen Gildenhäusern, die sich in der Unterstadt verteilen. Jedes einzelne mit dem goldenen Wappen der Gilde versehen und prachtvoller anzusehen als das nächste.


Sorieska ist eine wohlhabende Stadt. Die Häuser sind gepflegt. Kleinere Fachwerkbauten in der Unterstadt, die sich mit und mit in Steinvillen verwandeln, die die Oberstadt auszeichnen.


Ist die Unterstadt ein Bienenstock, so ist die Oberstadt eine wohlhabende, gemächliche Matrone. Alte Bäume und Statuen beschatten die Straßen, an denen sich die ehrwürdigen Villen aufreihen, die von den wohlhabenden Bürgern Sorieskas bewohnt werden. Das alte Händlerviertel ist ein ruhiger Flecken. Der große Park, in denen die Herrschaften flanieren oder ausreiten, die von Kutschen befahrenen Alleen - vielleicht verwundert es nicht, dass die Bewohner der lebendigen Unterstadt und des Marktviertels nur zu gern abfällig auf die Alteingesessenen über ihnen blicken und behaupten, dass in der Oberstadt die Zeit stehengeblieben sei. Die Händlerfamilien stören sich allerdings nicht daran - schließlich ist ihr Reichtum weithin sichtbar.


Die Soriesker sind stolz darauf, dass sie sich aus der Asche der Raben wieder neu erschaffen haben. Und so möchten sie auch, dass der Glanz Sorieskas nicht nur erhalten bleibt, sondern dass das Juwel von Serijsa noch heller erstrahlt. In Sorieska wird seit langer Zeit die Wissenschaft gefördert und man blickt mit einem misstrauischen Auge nach Fellshym, das den Versuch unternimmt, Sorieska die Vorherrschaft streitig zu machen. Es fällt den hiesigen Wissenschaftlern schwer, eine solche Unverschämtheit hinzunehmen und so arbeitet man hier hart daran, die Kollegen in Fellshym im Auge zu behalten und ihren Fortschritt zu dokumentieren.


Sorieska besitzt aus seiner langen Geschichte heraus mehr Sehenswürdigkeiten, als man zählen kann. Seien es das Opernhaus nach celaier Vorbild, die weitläufige, verwinkelte Universität auf einem Hügel der Oberstadt oder die mächtigen Statuen der Rabenkönige, die sich auf unterschiedlichen Plätzen in der gesamten Stadt verteilen. Aber zwei Gebäude stechen aus diesen heraus wie Gegenpole. Das eine ist die Kathedrale des Lichts, die sich auf dem Kathedralenberg in der Mitte der Stadt erhebt. Ein massives Bauwerk mit einer von Glasfenstern durchbrochenen, vergoldeten Kuppel, die im Sonnenlicht gleißt, als wäre die Sonne vom Himmel gefallen. Das andere ist Schloss Rabenschwinge auf dem Schlosshügel, die Heimat der Rabenkönige und einst der Mittelpunkt von Atharys. Die Mauern schwarz wie die Raben, die auf den Zinnen der grazilen Türme sitzen und auf die Stadt hinab blicken.


Es ist, als würden Tag und Nacht miteinander um die Vorherrschaft streiten. Als würden sie darum konkurrieren, wer von ihnen mehr Blicke auf sich zu ziehen vermag. Nirgendwo wird das Gefälle zwischen Licht und Schatten so sichtbar wie hier, in Sorieska, wo einst die Feen mit den Kindern der Sonne unter den Sternen getanzt haben. Und nirgends bestimmt es das Leben stärker.